Rezension

Öffnet eure Augen...

Alles Licht, das wir nicht sehen - Anthony Doerr

Alles Licht, das wir nicht sehen
von Anthony Doerr

Bewertet mit 5 Sternen

»Sie werden sagen, dass du zu klein bist, Werner, dass dir die Herkunft fehlt und du keine großen Träume hegen sollst. Aber ich glaube an dich. Ich glaube, du wirst einmal etwas Großes tun.«

1940, in einem Waisenhaus in Essen, mitten im Ruhrgebiet. Trotz seiner außergewöhnlichen technischen Begabung scheint der Weg von Werner Hausner vorbestimmt. Niemand außer Frau Elena, der Nonne, die das Haus leitet, glaubt an ihn. Unaufhaltsam rückt der Tag näher, an dem er wie alle Jungen aus seiner Gegend erstmalig in die Zeche einfahren soll. Doch es ist auch Krieg und irgendjemand erkennt, dass ein Junge mit einer solchen Begabung von großem Nutzen sein kann und es wert ist, gefördert zu werden. Ein Glück und eine große Chance für Werner?

 

Zur gleichen Zeit in Saint-Malo, einem kleinen Ort an der Küste der Bretagne. Die früh erblindete Marie-Laure ist mit ihrem Vater aus dem brennenden Paris hierhin geflüchtet. In einer Welt, die ihr Tag für Tag weniger Sicherheit bietet, versucht sie, sich nur durch Tasten, Hören und Riechen zurechtzufinden, liebevoll angeleitet durch ihren Vater. Doch dieser führt auch einen wertvollen Schatz mit sich, den er im Auftrag des „Muséum National d’Histoire Naturelle“ vor den deutschen Besatzern in Sicherheit bringen soll. 1944 wird eine Spezialeinheit der Wehrmacht in Saint-Malo eindringen, unter ihnen ein junger, begabter Techniker…

 

Das ist nun wieder eine von den Rezensionen, bei denen ich nach angemessenen Worten suche. Nach dem Beenden des Buchs habe ich das Gefühl, dass ich nur langsam wieder in die Wirklichkeit auftauche, zu tief hat mich die Lektüre in ihren Sog gezogen.

 

Das Buch verfolgt zwei Schicksale aus der Zeit des 2. Weltkriegs. Zwei Schicksale, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten. Auf der einen Seite ein blindes, französisches Mädchen und auf der anderen Seite ein deutscher, hochbegabter Junge. Beide haben, abgesehen vom Krieg, mit ihren ganz persönlichen Problemen zu kämpfen und beide Charaktere sind so sympathisch, dass ich sie von Anfang an in mein Herz schloss und das ganze Buch mit einem flauen Gefühl im Magen las. Bei dem Realismus, mit dem sämtliche Szenarien dargestellt wurden, fürchtete ich schon früh, dass es für wenigstens einen der beiden kein gutes Ende geben wird.

 

Weitere wundervolle Charaktere gesellten sich zu den beiden: Werners Schwester Jutta, die Leiterin des Waisenhauses, sein Freund Frederick, Maries Vater und ihr Großonkel Etienne. Ach, es kamen noch weitere hinzu, mit denen ich mitfieberte und hoffte, kaum ein Charakter im Buch ließ mich eine neutrale, unbeteiligte Leserin bleiben. Es gab die anderen Charaktere, die eindeutig bösen, denen ich ohne schlechtes Gewissen fiese Dinge an den Hals wünschte und die, bei denen ich mich mal schüttelte und ihnen im nächsten Moment Sympathie entgegenbrachte – weil ich erkannte, wie sie zu dem werden konnten, was sie waren und weil ich in ihnen noch gute Dinge entdecken konnte.

 

Die Geschehnisse waren wie die Charaktere. Manche wunderschön, andere abgrundtief schrecklich. Und manche ließen mich sehr nachdenklich werden. Ich glaube, es ist nicht möglich, dieses Buch zu lesen ohne sich immer mal wieder die Frage zu stellen, was man selbst getan hätte.

 

Zu den schönen Dingen gehören beispielsweise die Beschreibungen, wie Marie sich ihre Welt ertastet. Der Autor schuf wundervolle Sätze und Abschnitte, die mich beim Lesen tief bewegten.

»Drei Enten kommen geflogen, schlagen synchron mit den Flügeln und halten auf die Seine zu. Als die Vögel über sie hinwegfliegen, stellt Marie-Laure sich vor, sie kann das Licht auf ihren Flügeln fühlen, wie es jede einzelne Feder berührt.«

 

Diese herrliche Sprache zieht sich durch das ganze Buch, immer wieder lösten die gelesenen Worte bei mir starke und tiefe Empfindungen aus.

»Die Erinnerung trifft ihn wie ein aus der Finsternis heranrasender Zug. …  Es ist, als ertränke er, seit er sich erinnern kann, und plötzlich holte ihn jemand zurück an die Luft. … Die Harmonien sind wie ständig wachsende Perlen an einem Strand, und Werner sieht, wie sich die sechsjährige Jutta zu ihm beugt und Frau Elena im Hintergrund Brotteig knetet. Er hält ein Radio auf dem Schoß, und die Saiten seiner Seele sind noch nicht durchtrennt.«

 

Ich möchte jeden einladen, sich auf dieses Buch einzulassen. Mich bewegte es zutiefst und führte mich einmal durch die ganze Skala möglicher Gefühle. Spannend war es zudem, denn man hofft und fiebert so sehr mit – aber wie wird es ausgehen? Die kurzen Kapitel, die mal von Werner, mal von Marie berichteten, verführten mich ständig, noch eins und noch eins zu lesen. Andererseits las ich nicht wenige Kapitel zweimal, einfach um die Worte noch mal aufzunehmen und um ja keins zu verpassen. Und nach jedem Zuklappen lebte die Handlung in meinem Kopf weiter…

»Wobei sie [die Zeit] wirklich, … eine schimmernde Pfütze ist, die du in den Händen mit dir trägst. All deine Kraft solltest du dafür aufwenden, sie zu schützen. Dafür kämpfen. Dich so sehr bemühen, keinen Tropfen zu verschütten.«

 

Ein wundervolles Buch, ein perfektes Leseerlebnis. Gerne vergebe ich fünf Sterne und ein gedachtes Extrasternchen für diesen neuen Favoriten in meinem Bücherregal.

 

»Öffnet eure Augen und seht mit ihnen, was ihr könnt, bevor sie sich für immer schließen.«