Rezension

Originelle, absurde, verstörende Kurzgeschichtensammlung ohne Tabus, Grenzen und Kompromisse!

23 Uhr 12 – Menschen in einer Nacht -

23 Uhr 12 – Menschen in einer Nacht
von Adeline Dieudonné

~ „23 Uhr 12“ ist eine originelle, absurde, schwarzhumorige Kurzgeschichtensammlung ohne Tabus, Grenzen und Kompromisse, die einen gleichzeitig amüsiert, beeindruckt, schockiert und leicht verstört zurücklässt. Wer nach einem unvergleichlichen, ungewöhnlichen Leseerlebnis der Extreme sucht, wird mit diesem Buch viel Freude haben, aber wer sich ein tiefgründiges „Das wirkliche Leben 2“ mit liebenswerten Figuren erhofft, wird bitter enttäuscht werden. Wenn man weiß, worauf man sich einlässt (und das wisst ihr nach meiner Rezension ja jetzt), kann dieses kleine Büchlein aber durchaus Spaß machen und für einige unterhaltsame Lesestunden sorgen! ~

Inhalt

In einer Sommernacht treffen an einer Autobahn-Raststätte 12 eigenwillige, gänzlich verschiedene Persönlichkeiten aufeinander und werden Zeug·innen, wie eine ältere Dame über die Leitplanke auf die Fahrbahn klettert…
 
Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzählweise / Figurale Erzählweise, Präteritum
Perspektive: weibliche, männliche und tierische Perspektive
Kapitellänge: lang
Tiere im Buch: - Im Buch werden Tiere (Pferde, Delphine) verletzt, vernachlässigt, gequält und getötet (genauer: ein grausamer Tod steht einem Tier unmittelbar bevor, wird jedoch nicht näher beschrieben).
Triggerwarnung: Tod von Menschen und Tieren, Tierquälerei, psychische Krankheiten und Störungen, Mord, Blut, Gewalt, sexualisierte Gewalt, Ausbeutung von Mensch und Tier, Misogynie
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: N+tte, Schla+++, Tussi, Schnalle

Warum dieses Buch?

Das Debüt der Autorin („Das wirkliche Leben“) war das beste Buch, das ich 2020 gelesen habe und ich habe es sooo geliebt. Deshalb wäre es auch vollkommen egal gewesen, welches Buch die Autorin herausgebracht hätte – egal ob Roman, Kinderbuch oder Gärtnerei-Fachbuch –, ich hätte es gelesen!
 
Kurzrezension

Das hat mir gefallen…

Schreibstil (4 Lilien)

Dass Adeline Dieudonné gut schreiben kann, beweist sie auch in ihrem neuen Buch wieder. Ihre Sprache ist angenehm lesbar, roh, kraftvoll und bildlich und enthält vereinzelte poetische Beschreibungen und kreative, gelungene Metaphern. Ganz so fesselnd und mitreißend wie in ihrem Debüt erzählt sie dieses Mal aber nicht.

„Der Fernseher war für Julianne, was das Lagerfeuer für Steinzeitmenschen gewesen sein musste. Es vertrieb die Dunkelheit, wärmte sie und beschützte sie vor Angreifern.“ Seite 50

Idee / Geschichte / Themen / Umsetzung (4 Lilien)

Mit ihrem Debütroman „Das wirkliche Leben“ hat mich die Autorin tief berührt und beeindruckt. Dementsprechend hoch waren meine Erwartungen an „23 Uhr 12“. In ihrem neuesten Werk präsentiert Adeline Dieudonné eine große Bandbreite an Themen – und auch dieses Mal schreckt sie weder vor Tabus noch vor den Grenzen des guten Geschmacks zurück. Mord, Tierquälerei, Gewissenlosigkeit, Ausbeutung, Wahnsinn – die Klaviatur der menschlichen Abgründe beherrscht die Autorin virtuos. Garniert wird das Ganze noch mit viel Absurdität, unrealistischen Sexszenen, einem Hauch Gesellschaftskritik und einer großen Portion schwarzem Humor. „23 Uhr 12“ ist ein kompromissloses Buch der Extreme, ein Buch, das unangenehm und befremdlich ist, das oft verstört und einen inneren Widerwillen auslöst, ein Buch, das einen immer wieder beeindruckt („Wie mutig! Wie kreativ!“), das einem manchmal aber auch zu weit geht, Ekel hervorruft und einem den Mund offen stehen lässt („Das hat sie gerade nicht wirklich geschrieben, oder?!“). In manchen Momenten weiß man nicht, ob man auflachen oder entsetzt oder schockiert oder vielleicht sogar beleidigt sein soll – so habe ich mich noch nie bei einem Buch gefühlt!

Präsentiert bekommen wir kurze Einblicke ins Leben von 11 Menschen und einem Pferd, die sich zufälligerweise alle zur gleichen Zeit an einer Autobahnraststätte aufhalten. Diese 12 Geschichten hängen allerdings nur lose zusammen, ein richtiger Roman ist das für mich nicht. Ich bin eigentlich kein Fan von Kurzgeschichtensammlungen, habe mich aber trotzdem erstaunlich gut unterhalten gefühlt. Jede Geschichte ist originell, interessant, hebt sich von den anderen ab und bleibt in Erinnerung, aber: Es ist natürlich nicht möglich, auf den wenigen Seiten, die pro Person zur Verfügung stehen, in die Tiefe zu gehen. Doch genau von dieser emotionalen Tiefe hat der Debütroman der Autorin gelebt – im direkten Vergleich kann „23 Uhr 12“ also nur verlieren. Obwohl das Buch ohne Zweifel eine spannende, ungewöhnliche, interessante und unterhaltsame Leseerfahrung war, bleibe ich doch etwas enttäuscht zurück, weil ich nicht das bekommen habe, was ich mir erhofft hatte: nämlich mehr von dem, was ich an „Das wirkliche Leben“ so geliebt habe. Das ist aber natürlich Kritik auf hohem Niveau. Das nächste Werk der Autorin (ich hoffe auf einen zusammenhängenden Roman) werde ich mir deshalb natürlich wieder nicht entgehen lassen!

„Ihre Freundin Rose ist vor ein paar Wochen von ihrem Chef geschwängert worden. Alica hat ihr geraten, sich bei der Botschaft Hilfe zu holen. Aber Rose hat sich lieber vor einen Zug geworfen.“ Seite 41

Spannung & Atmosphäre (4 Lilien)

Auch wenn es aufgrund des Aufbaus des Romans keinen durchgehenden Spannungsbogen gab, wollte ich immer wissen, wie es weitergeht. Es gelingt der Autorin gut, innerhalb der Kapitel spannende und atmosphärische Momente zu erschaffen und die Leser·innen mit unerwarteten Wendungen am Ball zu halten.

Das lässt mich zwiegespalten zurück…

Figuren (3,5 Lilien)

Es sind extreme, teilweise schreckliche Schicksale, kuriose Situationen, eigenwillige Persönlichkeiten – man könnte sogar sagen, es ist eine Ansammlung von psychischen Störungen und Krankheiten –, auf die man im Buch trifft. Hat man eine Figur einmal kennengelernt, vergisst man sie nicht mehr und verwechselt sie später auch nicht; im Gegenteil, die Charaktere brennen sich sein, obwohl man ihnen nur wenige Seiten lang über die Schulter schauen darf. Genug Zeit für eine liebevolle, tiefgehende Ausarbeitung, fürs Verstehen der Figuren, fürs Mitfühlen und Mitfiebern bleibt aber leider nicht. Überhaupt wirken die meisten Figuren mehr wie überzeichnete, klischeehafte Karikaturen als wie echte Menschen. Außerdem sind viele davon so unsympathisch, dass es unmöglich ist, eine Verbindung zu ihnen aufzubauen.

„Seine Augen lauerten tief in den Höhlen, wie zwei kleine Köter, die bereit waren loszukläffen.“ Seite 16

Feminismus (3 Lilien)

Aus feministischer Sicht ist das Buch sehr schwer zu beurteilen. Es gibt zwar starke Frauenfiguren und das Buch besteht den Bechdel-Test, aber es kommen gegenderte Beleidigungen und problematische Ansichten vor und die Sexszenen sind teilweise so unrealistisch und so durch den Male Gaze geprägt, dass ich sie eher einem Mann zugetraut hätte als einer Autorin. Frauen sind gleichzeitig eiskalte Killerinnen und werden als Gebärmaschinen gesehen, das Buch reproduziert gleichzeitig Geschlechterklischees bzw. veraltete Vorstellungen von Geschlechterrollen und kritisiert sie bzw. bricht sie im nächsten Atemzug auf. Ich vergebe in dieser Kategorie daher etwas ratlose 3 Sterne/Lilien.

Das hat mir nicht gefallen:

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Mein Fazit

„23 Uhr 12“ ist eine originelle, absurde, schwarzhumorige Kurzgeschichtensammlung ohne Tabus, Grenzen und Kompromisse, die einen gleichzeitig amüsiert, beeindruckt, schockiert und leicht verstört zurücklässt. Wer nach einem unvergleichlichen, ungewöhnlichen Leseerlebnis der Extreme sucht, wird mit diesem Buch viel Freude haben, aber wer sich ein tiefgründiges „Das wirkliche Leben 2“ mit liebenswerten Figuren erhofft, wird bitter enttäuscht werden. Wenn man weiß, worauf man sich einlässt (und das wisst ihr nach meiner Rezension ja jetzt), kann dieses kleine Büchlein aber durchaus Spaß machen und für einige unterhaltsame Lesestunden sorgen!

Wer allerdings das Debüt der Autorin („Das wirkliche Leben“) noch (immer!) nicht gelesen hat (vorwurfsvoller Blick meinerseits ;)), der sollte unbedingt zuerst das lesen! Es ist ein großartiges, berührendes Buch, das man sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte!  

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 4 Lilien
Umsetzung: 4 Lilie
Worldbuilding: 4 Lilien
Einstieg: 4 Lilien
Ende: 3 Lilien
Schreibstil: 4 Lilien
Dialoge: 4 Lilien
Figuren: 3,5 Lilien
Spannung: 4 Lilien
Wendungen: 5 Lilien ♥
Atmosphäre: 4 Lilien
Emotionale Involviertheit: 3,5 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 3 Lilien
Einzigartigkeit: 5 Lilien ♥

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir vier Lilien!