Rezension

Persönliche Analysen eines Insiders

Die große Heuchelei - Jürgen Todenhöfer

Die große Heuchelei
von Jürgen Todenhöfer

Jürgen Todenhöfer ist Politik-Insider. Als ehemaliger Bundestagsabgeordneter hatte er einen Einblick auch in die "große Politik". Der promovierte Jurist wandte sich nach seinem politischem Engagement journalistischen Tätigkeitsfeldern zu. Sein Interesse galt in erster Linie der Situation der Menschen im Mittleren Osten, einer krisengeschüttelten Region, die nicht zur Ruhe kommt. Um einen realitätsnahen Eindruck zu bekommen, recherchierte er häufig vor Ort und lest die Leser nun an seinen Eindrücken teilhaben.

Das vorliegende Buch beschreibt die Reisen des Autoren (zumeist mit seinem Sohn Frederic) in verschiedene Länder des Mittleren Osten. Keineswegs ist es jedoch ein blosser "Reisebericht".
Nachdem Jürgen Todenhöfer beschreibt, warum es ihn immer wieder in den Mittleren Osten zieht, analysiert er aus seiner Perspektive, welche Aktionen zu der aktuellen, traurigen und desolaten Situation in der Region führten Krieg und Terror gehören zum Alltag der Menschen in diesen Staaten. Er wertet und bewertet hierbei insbesondere die Rolle der westlichen Staatengemeinschaft.
Auch ein Gang durch die Geschichte wird nicht vermisst. Das Verhältnis der großen Weltreligionen (Christentum, Islam und Judentum) zueinander und das, was die Menschen daraus gemacht haben, wird in kompakter Form über einen Zeitraum mehrer Jahrhunderte dargestellt und kritisch gewürdigt.
Den Schwerpunkt stellt jedoch die aktuelle Situation dar. Der Autor geht der Frage nach, wie es zur heutigen Lage kommen konnte und welche äußeren Einflüsse zu verheerenden Situation für die Bewohner des Mittleren Ostens führten. Die Frage, wieso eine unheilvolle Radikalisierung stattfand und welche Auswirkungen sie bis auf den heutigen Tag haben, auch in den Europäischen Staaten, wird eindringlich beleuchtet.
Im abschließenden Abschnitt "Kurz und bündig" fasst Todenhöfer seine Ergebnisse in 10 Thesen zusammen.

Mein Fazit:
Das Ziel des Buches, den Alltag der menschen in Krisengebieten des Mittleren Ostens eindringlich zu beschreiben, gelingt dem Autoren eindrucksvoll. Man wird, insbesondere bei der Schilderung von Familien- und Einzelschicksalen stark berührt und kann sich in die Situation der Menschen hineinversetzen. Hier greif der Autor auf sein profundes Wissen und seine zahlreichen Eindrücke zurück. Eindrücke, die wissens- und lesenswert sind.
Er hält der westlichen Staatengemeinschaft, insbesondere den USA, den Spiegel schonungslos vors Gesicht: die Verbreitung westlicher Werte durch Krieg führen nicht nur zu Not und Elend, sondern dienen aufgrund geostrategischer Überlegungen im Grunde genommen lediglich als Vorwand für die Durchsetzung eigener (Macht-) Interessen.
Ja, es wurden viele Fehler gemacht, die viele Länder und deren Bewohner in unendliches Leid stürzten. Daran gibt es kaum Zweifel und viele Historiker und Politikwissenschaftler stimmen dem zu: mit anderen Lösungsansätzen wäre man wohl weiter gekommen, ganz im Sinne der normalen Bevölkerung.
Das vorliegende Buch steckt voller Empathie. Genau dies wird an verschiedenen Stellen auch zum Schwachpunkt. Die Ableitung von Kritik aus der Betrachtung historischer Abläufe über mehrere Jahrhunderte im Anbetracht der aktuellen Situation ist emotional mehr als verständlich, sachlich aber in der vorgegeben Stringenz schwer haltbar. Hierdurch bekommt die an sich gerechtfertigte Kritik am Vorgehen mächtiger Staaten eine gewisse Einseitigkeit im jeweiligen Urteil.
Lesenswert ist das vorliegende Buch allemal - jeder Leser wird eine Vielzahl von Denkanstößen erhalten, wie auch immer die jeweiligen individuellen Analysen zu den politischen Vorgängen ausfallen mögen.