Rezension

Polarisiert - wie "Die Mittagsfrau"

Welten auseinander -

Welten auseinander
von Julia Franck

Bewertet mit 4 Sternen

Julia lebt in den 90ern allein in Berlin. Mit 4 Kindern von 3 Vätern war die Mutter der Roman-Julia 1978 aus der DDR übergesiedelt. Julia hatte später im Westen eine Beziehung zu einem Mann, der überzeugt davon war, dass er nicht alt werden würde und für den vor seiner Zeit mit ihr die DDR unbekanntes Terrain gewesen ist. Durch Stephan gelangt sie in eine bildungsbürgerliche Szene-West, während ihre Mutter Anna als Schauspielerin Teil der Künstler-Bohème-Ost gewesen sein muss. Zahlreiche Namen prominter DDR-Künstler lassen das DDR-Leben von Mutter und Kindern authentisch wirken, obwohl die Autorin betont, jeder hätte eigene Erinnerungen, so dass reale Personen sich im Buch nicht wiedererkennen würden.

In Rückblicken und dabei zwischen dem Erzählen in der 1. und 3. Person wechselnd, erinnert sich Julia an eine Kindheit als Sozialwaise, in der die Töchter den Haushalt nahezu allein führten und neben der Schule Geld verdienen mussten, um sich alltägliche kleine Wünsche zu erfüllen. Ihre Mutter Anna hatte stets ein geschicktes Händchen dafür, das Wohl der Kinder vorzuschieben, um Vorteile herauszuschinden, die ihrer eigenen Bequemlichkeit dienten. So fand sie immer wieder Mäzene, die Freiplätze an Privatschulen für die Töchter als „Sozialfälle“ beschafften und Julia lernte früh, die Hilfsbereitschaft von Pflegeeltern und Mentoren geschickt zu nutzen.

Jahre später findet Julia den kurzen Lebensbericht ihrer Großtante Gisela, die „jüdischer Mischling“ war. Eine Reihe prominenter DDR-Namen tauchen auf, so Julia Francks Großmutter Ingeborg Hunzinger, Tochter des Chemikers Hans Heinrich Franck und Enkelin des Malers Philipp Franck. Zusammenfassen lässt sich ketzerisch, dass Julias Vorfahren unangepasste, tatkräftige Frauen waren, die ein Leben fern von Rollenstereotypen für sich beanspruchten und ihre Kinder möglichst dem Personal überließen.

Hochinteressant fand ich die Figur der Steffi, die sich von der Bohème ausnutzen ließ und unentschlossen zwischen Fürsorge und Ablehnung changierte. Als Clou des komplizierten, autofiktional bearbeiteten Berichts einer nomadischen Außenseiter-Kindheit zeigt sich im Buch Julias leiblicher Vater Jürgen, der Junge, der in der „Mittagsfrau“ zurückgelassen wurde.

Julia Franck trifft mit ihrer Autofiktion den Sound der 80er. Ihre gleichnamige Protagonistin scheint stets viel zu jung zu sein, für das, was sie zu bewältigen hat, und oft sprachlos angesichts des Familien-Chaos, das sie entfaltet. Julia Francks Flickenteppich einer Kindheit wird ebenso polarisieren wie „Die Mittagsfrau“. Wer das Buch ablehnte, wird mit den auseinanderliegenden „Welten“ sicher wenig glücklich.