Rezension

Schonungslos ehrlich, aber leider voller frauenfeindlicher Audrücke und Slut Shaming

Clean - Juno Dawson

Clean
von Juno Dawson

~ „Clean“ von Juno Dawson war für mich leider eine Enttäuschung. Ich fand die arrogante, lästernde, gewollt coole Protagonistin unerträglich und mochte den umgangssprachlichen Schreibstil nicht. Obwohl die Autorin sich eigentlich sehr bemüht hat, konnte mich die Geschichte nicht richtig fesseln, und trotz mancher unerwarteten Wendung habe ich mich teilweise echt durchgequält. Schön fand ich, dass die Autorin so offen, ehrlich und schonungslos mit den Themen Sucht, psychische Krankheiten und Sexualität umgeht und dass sie gegen Vorurteile und Stigmatisierung anschreibt. Auch wenn ich manches zu beschönigend und verharmlosend, manches zu oberflächlich fand, wird das wichtige Thema über weite Strecken dennoch angemessen behandelt. Die Nebenfiguren haben mir gut gefallen, auch wenn ich hier gerne noch (viel) mehr über sie erfahren hätte. Mein größter Kritikpunkt, der mir auch den Lesespaß absolut vermiest hat, ist die Tatsache, dass in diesem Jugendbuch mit frauenfeindlichen Ausdrücken wie Fo***, Schla****, Miststück etc. munter um sich geworfen wird (mehr dazu beim Unterpunkt „Feministischer Blickwinkel“). Ich habe noch nie ein Jugendbuch gesehen, in dem so unsensibel mit dem Thema „sexistische/frauenfeindliche Sprache“ umgegangen wurde. Medien (auch Bücher) beeinflussen unser Unterbewusstsein und solch eine unreflektierte Verwendung dieser Wörter von einer angeblich „coolen“ Heldin wird auf die Zielgruppe Auswirkungen haben. Sexismus wird gefördert, und das wiederum fördert Gewalt an Frauen und Ungerechtigkeiten. Wollen wir wirklich, dass auch unsere Töchter noch in solch einer ungerechten Welt leben? Nein? Dann müssen wir bei den Kindern und Jugendlichen von heute ansetzen und aufhören, Slut Shaming und frauenfeindliche Sprache in (Jugend)Büchern als akzeptabel, lustig oder sogar cool darzustellen. ~

Inhalt

Lexi ist reich, ein It-Girl, hat eigentlich alles, wovon Teenager träumen. Doch den Versuchungen, die auf den Partys der Reichen und Schönen lauern, kann sie immer schlechter widerstehen. Immer mehr verliert sie sich in einem Strudel aus verschiedenen Drogen und Alkohol. Lexis Bruder reicht es irgendwann. So landet Lexi zum ersten Mal in ihrem Leben in einer Entzugsklinik. Sie sträubt sich mit voller Kraft gegen die Einweisung. Denn: Was soll das eigentlich? Lexi ist doch nicht süchtig, sie hat doch nicht die Kontrolle verloren! Oder?

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Carlsen
Seitenzahl: 400
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens & Präteritum
Perspektive: hauptsächlich aus weiblicher Perspektive, selten auch aus männlicher
Kapitellänge: mittel bis kurz
Tiere im Buch: + Es werden keine Tiere verletzt oder getötet, im Gegenteil, die im Buch vorkommenden Pferde werden sehr liebevoll behandelt.

Warum dieses Buch?

Der Klappentext klang nach einem ungewöhnlich und interessant. Da ich als angehende Lehrerin immer auf der Suche nach Jugendliteratur bin, die auch ernste Themen angemessen behandelt, wollte ich dieses Buch unbedingt lesen.

Meine Meinung

Einstieg (+)
 

Der Einstieg ist mir sehr leicht gelungen. Die Geschichte beginnt mit Lexis Einweisung, in Rückblenden erfahren wir später erst, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Durch diesen direkten Einstieg kommt keine Langeweile auf, zumal Lexis körperlicher und geistiger Zustand echt schockiert.

„Die Nacht zurückspulen. Das Letzte, was ich vor mir sehe, ist das Hotel. […]
Genau. Die blaue Chaiselongue. Eine Nadel.
Scheiße.
Fühlt sich so eine Überdosis an?“ E-Book, Position 29

Schreibstil (+/-)

Prinzipiell ist der Schreibstil flüssig und schnell lesbar. Er ist anschaulich, enthält ein paar Teenager-Weisheiten und vermittelt Gefühle gut. Oft besteht er aus Halbsätzen und Ellipsen, was Jugendlichen sicher gefallen wird. Eines hat mich allerdings am Schreibstil sehr gestört: Die extreme Umgangssprachlichkeit gepaart mit unzähligen Schimpfwörtern (dazu später mehr), einigen Wiederholungen und einer künstlich wirkenden Coolness. Ich kann es nur schwer ertragen, wenn eine Autorin oder ein Autor sich zu sehr bemühen, ihre Protagonistin rebellisch und cool wirken zu lassen. In diesem Buch wirkte das auf mich stellenweise sehr aufgesetzt und es hat mich ehrlicherweise sehr genervt.

„Mich juckt es überall. Ameisen graben einen Tunnel unter meiner Haut.“ E-Book, Position 216

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

Man merkt, dass die Autorin recherchiert hat. Für ein Jugendbuch sind die Beschreibungen von Selbstverletzung, Entzug, Süchten und Sexualität (Selbstbefriedigung von Mädchen wird ebenfalls erwähnt, was mit Sicherheit fortschrittlich ist) erstaunlich schonungslos und tabulos. Ich denke, diese Ehrlichkeit wird dem Zielpublikum gefallen und die Behandlung dieser oft in Jugendbüchern verbotenen, verpönten oder ausgeklammerten Themen wird Faszination und Interesse auslösen. So scheut sich die Autorin keinesfalls zu beschreiben, wie die Protagonistin in den ersten Tagen ihres Entzuges in ihr Bett macht, wie sie sich übergibt und leidet. Dabei werden Schmerzen und Gefühle sehr anschaulich und teilweise mit gelungenen Metaphern beschrieben. Besonders schön und lobenswert finde ich, dass sich die Autorin bemüht, gegen Vorurteile psychisch Kranken gegenüber zu kämpfen und zu zeigen, wie es heutzutage in psychiatrischen Kliniken wirklich gutgeht. Das finde ich besonders in Zeiten, in denen das „verlassene Irrenhaus“ gerne als Schauplatz für Horrorfilme etc. dient (und das ist in Ordnung, solange man weiß, dass heutige Kliniken nichts mehr mit den düsteren, trostlosen Orten aus der Vergangenheit zu tun haben) besonders wichtig. Am Ende des Buches sind Adressen angeführt, an die man sich wenden kann, wenn man Hilfe benötigt – das finde ich sehr wichtig, falls einige Menschen durch den Inhalt des Buches eventuell getriggert werden.

Dennoch finde ich trotz allem, dass manches unlogisch war (z. B. dass die Jugendlichen so oft unbeaufsichtigt waren), dass die Autorin manche Dinge beschönigt oder sogar verharmlost. In einer Rezension wurde das Buch als „Gossip Girl auf Entzug“ beschrieben. Dem kann ich nur zustimmen. Der Schauplatz, die hochmoderne Clarity-Klinik für die Reichen und Schönen, ist paradiesisch und strotzt nur so vor Luxus – ein idyllischer Ort, der den meisten (Sucht)Kranken verwehrt bleiben wird. Zudem hatte ich immer wieder das Gefühl, dass manche Drogen verharmlost werden – und ich rede hier nicht von Cannabis, sondern von Kokain. Ständig wird von den Figuren von „nur ein Näschen Koks“, „es scheien lassen“ etc. geredet. Es gibt hierbei nicht nur Euphemismen für den Konsum, sondern die durchaus gefährliche Droge Kokain wird teilweise auch als harmlos und als „Einstiegsdroge“ dargestellt. Meiner Meinung nach ist das sehr problematisch. Lexis Einsicht kommt zudem recht spät und wird meiner Meinung nach nicht ausführlich genug abgehandelt.

Juno Dawson beschäftigt sich mit Themen wie Sucht, Einsamkeit, Schuldgefühle, Ängste, Selbstverletzung, Essstörungen, Transsexualität und Verantwortung. Im Mittelpunkt stehen auch immer wieder die Probleme, mit denen Betroffene im Alltag konfrontiert sind. Generell hätte ich mir stellenweise mehr Tiefe gewünscht. Obwohl es hier sehr viele gute Ansätze gibt, konnte mich das Buch emotional nicht wirklich mitreißen, ich hätte mir einen genaueren Einblick in Lexis Gefühle und Gedanken und auch mehr Einblick in die Welt ihrer MitpatientInnen gewünscht. Das Ende hat mich zwar nicht vom Hocker gerissen (weil in gewisser Weise zu positiv), aber manche Enthüllungen fand ich durchaus gelungen (z. B. die Kurzgeschichte).

Protagonistin (-)

Mit Lexi konnte ich mich leider überhaupt nicht anfreunden. Ich fand sie auch nach ihrem Entzug noch oft oberflächlich, arrogant, unhöflich und vor allem respektlos und beleidigend anderen gegenüber. Ihre Lästereien waren für mich kaum zu ertragen, vor allem wenn sie sich auf Äußerlichkeiten und das Gewicht mancher anderer Personen bezogen. Ich dachte mir dann immer: Kümmere dich lieber einmal um deine eigenen zahlreichen Probleme, bevor du die über andere lustig machst! Ich fand Lexi auch oft zu gewollt cool, rebellisch und gemein, zudem stimme ich jener Person zu, die geschrieben hat, dass Lexis Charakter zu 80% aus ihrer Sucht besteht. Meiner Meinung nach hat Lexi eigentlich keine richtige Persönlichkeit, sie konnte mich nicht berühren. Lexis Verwandlung, die „Läuterung der Sünderin“, fand ich stellenweise etwas klischeehaft.

Nebenfiguren, Beziehungen & Liebe (+/-)

Die Nebenfiguren haben mir hier schon viel besser gefallen, auch wenn man meiner Meinung nach zu wenig über sie erfährt und sie daher zu oberflächlich bleiben. Dennoch gab es hier viele gute Ansätze, sie hatten eigene Persönlichkeiten und waren teilweise sehr sympathisch. Die Szenen, in denen alle zusammen waren und Spaß hatten, haben mir sehr gefallen und haben mir oft ein Lächeln ins Gesicht gezaubert. Besonders gerne mochte ich Dr. Goldstein, Guy und Kendall. Natürlich habe ich mich gefragt, ob auch bei solch einer Geschichte unbedingt eine Lovestory dabei sein muss, aber ich bin hier (trotz der Prise Insta-Love) nicht so kritisch wie meine MitleserInnen und finde, dass die Liebesgeschichte durchaus gelungen geschrieben wurde.

Spannung & Atmosphäre (-)

Leider konnte mich diese Geschichte, die viele verschiedene Stimmungen von fröhlich über lustig, traurig, wütend bis hin zu verzweifelt abdeckt, über weite Strecken nicht packen. Immer wenn ich dachte, jetzt bin ich ganz in die Geschichte eingetaucht, ab jetzt wird es besser, kam erneut ein Spannungseinbruch. Woran es genau lag, dass ich mich wirklich zwingen musste, weiterzulesen, kann ich nicht ganz festmachen. Einerseits gibt es zwar nur wenig Handlung, andererseits bemüht sich die Autorin sehr, es trotzdem spannend zu machen. Bei mir hat das trotz manch sehr unerwarteter Wendung leider nicht funktioniert – und ich war froh, als das Buch vorbei war.

Feministischer Blickwinkel (-!)

Nun komme ich zu meinem größtem Kritikpunkt, einem Punkt, der dazu führt, dass ich dieses Buch von mir nur 2 Sterne und keine Leseempfehlung (zumindest an Jugendliche) erhalten wird: Das Slutshaming in diesem Buch ist nicht zu ertragen und absolut unverantwortlich. Gerade wenn eine „coole“ Hauptfigur wie Lexi solche Ausdrücke ohne jede Reflexion verwendet, wird das auf das Zielpublikum Auswirkungen haben. Wenn Lexi schon mit Schimpfwörtern um sich schmeißt (was in Ordnung ist, wenn man zeigen will, dass sie ein rebellischer Teenager ist), dann doch bitte nicht mit den frauenfeindlichsten Ausdrücken, die es überhaupt gibt. Auf gefühlt jeder dritten Seite werden Mädchen und Frauen munter als Tussis, Schlam***, Miststücke und sogar (!) Fo**** bezeichnet! Hallo? Gleichstellungsauftrag im Jugendbuch? Ist der Autorin klar, wie stark Medien (auch Bücher) uns unterbewusst beeinflussen? Solche Worte sind nicht in Ordnung, weil auch sie Sexismus und die Benachteiligung der Frau am Leben erhalten. Und das führt wiederum beispielsweise zu mehr Gewalt an Frauen. Dass Lexi teilweise auch Männer mit diesen Worten beschimpft (hauptsächlich jedoch schon Frauen), macht es nicht wirklich besser. Nur zur Verdeutlichung einige dieser Momente im Buch, bei denen ich nur dachte, ich lese nicht richtig (Jugendbuch?!):

„‘Jetzt sei keine Fo***! Ich sitze hier doch bloß ganz friedlich, blöde Pu***.‘“ E-Book, Position 2433

„‘Ruby, ich entschuldige mich, dass ich so ein Miststück war. Eine richtige Fo*** war ich.‘“ E-Book, 2046

„Himmel, wir liefen aber auch echter immer rum wie die Schla**** vom Dienst, damals.“ E-Book, Position 2490

Gespräch zwischen Geschwistern:

„Ich gucke zu ihm hoch und wische ihm eine Träne aus dem Gesicht. ‚Dann heul doch nicht, Riesenpu***.‘ Ich grinse und er drückt mich noch fester.
‚Oh, ich hab dich vermisst, Fo***.‘" E-Book, Position 1994

(Die ganz schlimmen Wörter wurden zensiert, damit meine Rezension nicht gesperrt wird.) So schlimm habe ich eine derartige Unsensibilität für sexistische Sprache noch nie in einem Jugendbuch erlebt. Deshalb werde ich mich auch davor hüten, es dem Zielpublikum zu empfehlen. Dass die Autorin ansonsten Frauen auch teilweise als stark, mutig und unabhängig präsentiert, dass auch Jungen weinen dürfen (mit Rotz und allem), hat mir gefallen. Es soll hier natürlich auch gelobt werden.

Mein Fazit

„Clean“ von Juno Dawson war für mich leider eine Enttäuschung. Ich fand die arrogante, lästernde, gewollt coole Protagonistin unerträglich und mochte den umgangssprachlichen Schreibstil nicht. Obwohl die Autorin sich eigentlich sehr bemüht hat, konnte mich die Geschichte nicht richtig fesseln, und trotz mancher unerwarteten Wendung habe ich mich teilweise echt durchgequält. Schön fand ich, dass die Autorin so offen, ehrlich und schonungslos mit den Themen Sucht, psychische Krankheiten und Sexualität umgeht und dass sie gegen Vorurteile und Stigmatisierung anschreibt. Auch wenn ich manches zu beschönigend und verharmlosend, manches zu oberflächlich fand, wird das wichtige Thema über weite Strecken dennoch angemessen behandelt. Die Nebenfiguren haben mir gut gefallen, auch wenn ich hier gerne noch (viel) mehr über sie erfahren hätte. Mein größter Kritikpunkt, der mir auch den Lesespaß absolut vermiest hat, ist die Tatsache, dass in diesem Jugendbuch mit frauenfeindlichen Ausdrücken wie Fo***, Schla****, Miststück etc. munter um sich geworfen wird (mehr dazu beim Unterpunkt „Feministischer Blickwinkel“). Ich habe noch nie ein Jugendbuch gesehen, in dem so unsensibel mit dem Thema „sexistische/frauenfeindliche Sprache“ umgegangen wurde. Medien (auch Bücher) beeinflussen unser Unterbewusstsein und solch eine unreflektierte Verwendung dieser Wörter von einer angeblich „coolen“ Heldin wird auf die Zielgruppe Auswirkungen haben. Sexismus wird gefördert, und das wiederum fördert Gewalt an Frauen und Ungerechtigkeiten. Wollen wir wirklich, dass auch unsere Töchter noch in solch einer ungerechten Welt leben? Nein? Dann müssen wir bei den Kindern und Jugendlichen von heute ansetzen und aufhören, Slut Shaming und frauenfeindliche Sprache in (Jugend)Büchern als akzeptabel, lustig oder sogar cool darzustellen.

Leseempfehlung: Ich kann das Buch leider nicht weiterempfehlen, besonders nicht Jugendlichen. Ich bin mir sicher, dass es noch andere Lektüre zum Thema gibt, die von frauenfeindlichen Ausdrücken absieht.
Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 3 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Ausführung: 2 Sterne
Einstieg: 5 Sterne
Schreibstil: 3 Sterne
Protagonistin: 2 Sterne
Nebenfiguren: 3,5 Sterne
Atmosphäre: 2 Sterne
Spannung: 2 Sterne
Ende: 3 Sterne
Emotionale Involviertheit: 2,5 Sterne
Liebesgeschichte: 3 Sterne
Feministischer Blickwinkel: -!

Insgesamt:

❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 2 enttäuschte Lilien!