Rezension

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Schweigende Frauen und Kinder auf der Suche nach Identität

Auf der Straße heißen wir anders -

Auf der Straße heißen wir anders
von Laura Cwiertnia

Bewertet mit 5 Sternen

Wie lange muss man schweigen, bis sich jemand auf den Weg macht und nachfragt

Laura Cwiertnia schreibt in ihrem wirklich einprägsamen Debut über Karla, eigentlich Karlotta, aber aus diesem Namen ist sie rausgewachsen, deren Großmutter Maryam gestorben ist und ihrer Familie eine Liste hinterlässt mit 14 Punkten, die diese zu beachten hat. Neben einigen armenischen Traditionen zu Beerdigungen sollen die Kinder einer ihnen bis dahin völlig unbekannten Frau - Lilit Kuyumcyan - einen goldenen Armreif nach Armenien bringen.

Vater Avi, Maryams Sohn, und Karla machen sich auf den Weg nach Armenien und somit auch gleichzeitig auf den Weg zu ihren Wurzeln - beide haben das Land ihres Volkes noch nie besucht. Avi ist in Istanbul aufgewachsen und als Jugendlicher nach Deutschland gekommen, Karla ist in Bremen-Nord aufgewachsen.

Der Roman wird aus zwei Zeitperspektiven geschrieben deren Kapitel sich abwechseln - die eine Handlungsebene findet nach dem Tod der Großmutter statt und führt zur Reise nach Armenien, die andere Handlungsebene führt in Rückblenden/Erinnerungen der einzelnen Familienmitglieder über 4. Generationen bis hin zur Kindheit der Urgroßmutter Armine.

Laura Cwiertnia gelingt es zu beschreiben, wie schwierig es für die Mitglieder der Familie ist irgendwo dazu zu gehören. Karla als halb Deutsche, halb Armenierin, die aber nicht die Sprache des Vaters spricht und deshalb bei den anderen Jugendlichen mit Migrationshintergrund nicht für voll genommen wird. Avi, dem früh beigebracht wird sich sicherheitshalber in Istanbul Ali zu nennen damit keiner merkt, dass er nicht dazugehört, der als Kind nach Jerusalem in ein Kloster geschickt wird und erst da erfuhr das es überhaupt ein armenisches Land gibt.  Maryam, die in den 50ern die Pogrome in Istanbul miterlebt und in den 70ern als Gastarbeiterin nach Deutschland kommt und Armine, die beinahe ihre gesamte Familie im Genozid von 1915/1916 verliert und als Waise nach Stanbul gebracht wird.

Zu traumatisch sind diese Wunden, dass alle in dieser Familie über ihre wahre Herkunft schweigen - sondern die Verletzungen einfach stillschweigend an ihre Kinder weitertragen. Von der Urgroßmutter zur Großmutter über den Vater bis zur Tochter - nie wird über die wahre Herkunft der Familie gesprochen. Maryam möchte diese von Generation zu Generation weitergegebene schmerzliche Last endlich beenden - hat aber selbst nicht mehr die Kraft dafür (Sie war zu schwer für das Leben. Und nun sogar für den Tod) aber beauftragt ihre Nachkommen damit, was selbst ihre Mutter nicht mehr geschafft hat - Lilit eine weitere Überlebende des Genozids ausfindig zu machen und so die getrennten Familien wieder zusammenzubringen und die Wurzeln der Identität zu finden. Jede Generation hat als Kind Verlust in der Familie durch Scheidung oder Tod erfahren.

Wann wird aus einem Zuhause eine Heimat? fragt L. Cwiertnia. Nach der Lektüre kann ich es auch nicht mehr so einfach beantworten. Muttersprache, Vaterland ist es das? Alle Figuren in ihrem Buch scheinen keine Heimat zu haben - aber die Hoffnung auf eine - indem sie miteinander im Gespräch bleiben.