Rezension

Sehr berührend, anregend und zeitgeschichtlich spannend

Vor der Wand - Michael Göring

Vor der Wand
von Michael Göring

Bewertet mit 5 Sternen

Im Fokus des Romans steht eine typisch (west-)deutsche Familie in einer typisch (west-)deutschen Kleinstadt. Der Vater war während des Hitlerregimes bei der Eisenbahn tätig und für die Koordination der Zugfahrpläne verantwortlich. Sehr nahe Kollegen waren für die Organisation der Sonderzüge verantwortlich.

Sein Sohn Georg, 1955 geboren, beginnt als Teenager, politische Diskussionen liebend und beeindruckt von Peter Weiss` „Ermittlungen“, vermehrt in den Vater zu dringen, dieser möge doch erzählen über sein Verhalten unter Hitler. Der Vater jedoch schweigt. „Warum reagierte Vater immer so aufbrausend und abwehrend zugleich, sobald das Gespräch auf die Nazizeit kam? Gut, Georg klagte immer gleich an. Aber wie sollte man anders über diese Jahre sprechen? Neutral? Verständnisvoll? Mitfühlend gar? Nein!“

Vater und Sohn entfremden sich voneinander. Einige Jahre später liegt der Vater aufgrund einer schweren Krebserkrankung im Krankenhaus. Georg und er nähern sich wieder an und der Vater bricht sein Schweigen.

Die Figuren und ihre Handlungen konnte ich sehr gut nachvollziehen und verstehen. Profunde Fragen werden hier thematisiert: Wie geht man mit der Verantwortlichkeit, der Schuld des Einzelnen um? Wie geht man damit um, wenn Eltern in gewisser Weise zu Tätern gehörten? Wie soll man ihr Verhalten bewerten? Welche Folgen hat das eigentlich für die Nachkommen der Täter?

Daneben geht es auch um eine etwas komplizierte Vater- Sohn Beziehung und das Singen, das beide miteinander verbindet. Beide verfügen über Gesangstalent und singen im Chor. Klang für mich erst mal furchtbar spröde, war es aber – überraschenderweise - überhaupt nicht. Ganz warmherzig und berührend wird vom Singen, auch von Fallstricken während des Stimmbruchs oder auch einer möglichen einschlägigen Berufswahl erzählt.

Der auch zeitgeschichtlich sehr interessante Roman (Organisation der Bahn unter Hitler, Kriegsgeschehen, politische Zeit der 68er) wird in verschiedenen Zeitebenen und mit Rückblicken erzählt. Die Lektüre nahm mich so komplett gefangen, dass ich bei jedem Zeitensprung und neuem Kapitel immer kurz Orientierung brauchte, da ich so versunken war. Absolut fesselnd, intensiv, berührend und auch witzig wird erzählt. Hier wurden zudem verschiedene Dilemmata deutlich gemacht, was mich sehr aufrührte und zum Innehalten und Nachdenken anregte.

Die titelgebende Wand findet sich im Roman übrigens immer mal wieder, mal ganz konkret und mal als Metapher.

Fazit: Ein berührender, einfühlsamer und kluger Roman über eine Vater- Sohn Beziehung sowie über einen Teil der deutschen Nazi- Vergangenheit, der – öffentlich insgesamt kaum beachtete - Auswirkungen auch auf folgende Generationen hat.