Rezension

Skandal in der Frauenklinik?

Fräulein Gold: Der Himmel über der Stadt - Anne Stern

Fräulein Gold: Der Himmel über der Stadt
von Anne Stern

Bewertet mit 4 Sternen

 Selbst wenn ich für historische Romane nichts übrig hätte - die Hörbücher der Hulda-Gold-Reihe über eine junge Hebamme im Berlin der 1920-er Jahre wären für mich auf jeden Fall ein Muss. Das liegt nicht zuletzt an der Sprecherin, Anna Thalbach. Die ist für mich eine großartige Schauspielerin und auch wenn sie "nur" ihre Stimme zur Verfügung hat, schafft sie es, den Figuren des Romans ein Gesicht zu geben, mal als Berliner Göre, mal im Hamburger Platt, mit Nuancen und Akzentuierungen, die die Figuren in soziale Milieus einordnen und Kopfkino entstehen lassen. Ein echter Hörgenuss also.

Außerdem hat Autorin Anne Stern mit dem Berlin der Weimarer Republik ein faszinierendes Setting geschaffen. Wie bereits in den beiden vorangegangenen Büchern steht die Handlung von "Der Himmel über der Stadt" im Gesamtzusammenhang einer quirligen, zugleich aber tiefst fragiler Zeit voller sozialer und politischer Spannungen. Der Erste Weltkrieg und die globale Wirtschaftskriege stehen den Menschen noch als Schrecken in Erinnerung, die junge Republik muss ihren eigenen Weg finden, doch trotz allem Freigeist des damaligen Berlins kündigt sich die zunehmende Bedeutung der Nationalsozialisten an, die ein ganz anderes Deutschland wollen. 

Für Hulda als Tochter eines jüdischen Vaters ist das auch eine ganz persönliche Bedrohung. Ihr Freund, der Kioskbesitzer Bert, schwankt als Homosexueller zwischen dem Wunsch, in der Szene der Stadt seine "falsche Liebe" doch ausleben zu können und der Angst vor der Härte des Schwulenparagrafen im Strafrecht.  Als Hebamme in der Frauenklinik erlebt Hulda ganz unmittelbar die Sorgen, die die angeblich wilden 20-er Jahre für junge Frauen bedeuten: Die Angst, schwanger zu werden und nicht wirklich zuverlässig verhüten zu können, ganz abgesehen davon, dass die sexuelle Aufklärung sehr zu wünschen übrig lässt.

Doch in der Klinik treiben sie in dem Buch weniger die ungewollt schwangeren Frauen um, sondern gleich mehrere Frauen, die nach zahlreichen Fehlgeburten nun endlich schwanger sind und als stationäre Patientinnen bis zur Geburt  überwacht werden. Hulda ist neu in der Klinik, nach Jahren als freiberufliche Hebamme und muss sich daran gewöhnen, dass in der Klinik die Ärzte den Ton angeben und die erfahrenen Hebammen beiseite stehen müssen - ein Problem für die selbstbewusste junge Frau, die ihren Beruf mit Leidenschaft ausübt. Stutzig macht es sie, dass es gleich mehrfach bei Kaiserschnittgeburten zu Komplikationen gekommen ist,   mehrere Frauen starben.  Spielt der Ehrgeiz der beiden Oberärzte, die um eine Berufung an die Universität konkurrieren, eine Rolle?

Hulda, die sich schon in den Vorgängerbänden durch ihre Neugier angestachelt als Hobbydetektivin unterwegs war, bemüht sich auch hier um Aufklärung. Privat ist sie gleich doppelt abgelenkt: Ihr Freund, der Kriminalbeamte Karl, verliert zunehmend den Halt und den Kampf gegen seine Alkoholprobleme. Und ein junger Arzt an der Frauenklinik zeigt deutliches Interesse an Hulda, das ihr keineswegs unangenehm ist...

Als Krimi ist "Der Himmel über der Stadt" deutlich mehr "Cozy" als die historischen Polizeiromane von Volker Kutscher oder Philip Kerr. Reichlich Zeitgeist gibt es dennoch und mit Anna Thalbach eine Stimme für die Atmosphäre der mit so vielen Spannungen aufgeladenen Stadt.