Rezension

Spannend bis zur letzten Seite

Kernfrage - Andrea Weisbrod

Kernfrage
von Andrea Weisbrod

Bewertet mit 5 Sternen

„...In meinem Herzen zerbröckelte der letzte Rest Schutzmauer aus Zuversicht und Vertrauen, aus Fröhlichkeit und Unschuld. Der Panzer, der seit vielen Jahren um mein zappelndes Lebensorgan wucherte, schließt sich mit einem leisen Knirschen...“

 

Wir schreiben das Jahr 2004. Teresa ist mit ihrer 88jährigen Tante Sophie in einem Kellerraum eingesperrt, in dem das Wasser immer höher steigt.

Teresa erinnert sich, was seit 2003 geschah. Sie lebt seit einiger Zeit in Ho-Chi-Minh-Stadt. Dort erreicht sie eine Mail von Großcousine Joanna und Cousin Freddie. Beide laden sie zu einem Besuch nach Baltimore ein, um gemeinsam den Geburtstag von Sophie zu feiern.

Die Autorin hat einen fesselnden Krimi geschrieben, der sich in mehrfacher Hinsicht von den üblichen Büchern des Genres unterscheidet. Zum einen wird die Geschichte in zwei Handlungssträngen erzählt, zum anderen spielen Mord und Mordversuch erst spät eine Rolle.

Das Geschehen in der Gegenwart berichtet Teresa aus ihrer Sicht. Teresa ist Historikern und hat vor wenigen Monaten von den dunklen Seiten ihres Vaters erfahren. (Anmerkung: Davon erzählt die Autorin in „Tote Väter“). Von ihrer amerikanischen Verwandtschaft hat sie außer Joanna nie jemand kennengelernt. Deshalb nimmt sie die Einladung an.

Der Strang der Vergangenheit beginnt im Jahre 1923 in einer Handwerkerfamilie. Dort wächst Delia, Teresas Mutter, auf. Sie ist die älteste Tochter und wird von der eigenen Mutter bevorzugt. Ihre jüngere Schwester Hermine dagegen ist der Willkür und den brutalen Schlägen des Vaters ausgesetzt. Die Eltern üben das Schneiderhandwerk aus. Anton, der älteste Sohn, wird zum Onkel geschickt, um auf Empfehlung des Lehrers eine höhere Ausbildung absolvieren zu können. Auch hier sind Schläge an der Tagesordnung.

Das Buch ließ sich zügig lesen und hat mich schnell in seinen Bann gezogen. Das liegt an der abwechslungsreichen Handlung, bei der mich vor allem der Teil der Vergangenheit gefesselt hat.

Es werden immer ein paar Jahre übersprungen und so wesentliche Entwicklungsetappen der Familie erzählt. Es ist ein Leben in Lieblosigkeit, das bei den Kindern gravierende Spuren hinterlässt.

Krieg und Nachkriegszeit werden beleuchtet. Die Zeit in Amerika klingt nur an.

In der Gegenwart stehen Joannas Aktivitäten im Vordergrund. Sie möchte alle Familienmitglieder zusammenbringen und plant eine große Familienfeier in Koblenz.

Der Schriftstil des Buches ist ausgefeilt. Das zeigt sich unter anderem in der detaillierten Beschreibung des Alltagslebens der Vergangenheit. Gekonnt operiert die Autorin mit passenden Adjektiven. Für psychische Durchdringung der Protagonisten findet sie nicht nur treffende Worte. Die seelischen Verletzungen werden insbesondere in den Handlungen und den Emotionen deutlich. Hinzu kommen sehr komplexe Beziehungen der einzelnen Familienmitglieder. Hermines Hoffnungslosigkeit, die sie mit ihrer Freude am Kochen und Backen kaschiert, Tonis Kälte, die ihm hilft, die Schläge des Onkels zu kompensieren, Delias Streben nach Höherem, das den Geschwistern, insbesondere Hermine, nur eine dienende Rolle zubilligt, sind einige der Kernpunkte der Geschichte.

In der Gegenwart werden vor allem Teresas Gefühle und Verletzungen durchleuchtet. Das neue Leben in Amerika bekommt ihr. Doch die Katastrophe lauert schon in der Ferne. Das obige Zitat stammt von Teresa. Sie spricht es fast am Ende des Buches aus.

Das Cover mit den zwei leeren Stühlen ist ungewöhnlich. Nach dem Lesen des Buches findet man dafür aber viele Erklärungen.

Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Das lag nicht nur an der ungewöhnlichen Erzählweise, sondern auch an der spannenden Handlung und den historisch gut recherchierten Fakten.