Rezension

Sprachlich herausragender Mutmacher für psychisch Erkrankte, der sich in seiner Schwere seiner bedeutungsschwangeren Bildsprache verliert und daher die Figuren vernachlässigt

Kompass ohne Norden - Neal Shusterman

Kompass ohne Norden
von Neal Shusterman

Bereits im Vorwort macht Star-Autor Neal Shusterman sein Anliegen, das er mit "Kompass ohne Norden" verfolgt, klar. Psychisch Erkrankten zu zeigen, dass sie nicht alleine sind, und in den Leser*innen Empathie zu wecken. Dabei ist die emotionale Entwicklung der Hauptfigur Caden, die hier geschildert wird, stark angelehnt an die Eindrücke von Shustermans Sohn - allein dadurch schöpft er eine Authentizitätsquelle, die man dem durch den Deutschen Jugendliteraturpreis gewürdigten Roman nicht so leicht absprechen kann. Kann er mit dem Gesamtpaket überzeugen?

 

Shusterman kann mit einem sprachlich herausragenden Niveau, das durch die deutsche Übersetzung nicht an Qualität verliert, aufwarten. Für die Reise ins Innere seiner Hauptfigur weiß er mit bewusst formulierten sprachlichen Bildern und philosophisch-verzweifelten Gedankensprüngen, die den psychischen Zustand widerspiegeln, zu beeindrucken. Er schreibt so tiefsinnig, dass sich hinter jedem Satz eine versteckte Metaphorik erahnen lässt - und genau da liegt das Problem.

 

Trotz der ergreifenden Reise in die (im wahrsten Sinne des Wortes) ozeanweiten und -tiefen Abgründe des menschlichen Geistes konnte ich mich in Caden nie hineinversetzen, nein, seine Gedankenwelt wirkte auf mich statisch taub und überschwemmt. Das liegt daran, dass der dargestellte Inhalt oftmals aufgrund der bedeutungsschwangeren Symbolik unnötig verschachtelt ist und ich als Leser nur selten wirklichen Zugang zu einer Figur, über die man im weiteren Verlaufe fast nichts erfährt, fand.

 

Sicherlich war dies auch das Herzanliegen des Autors, in mir Verständnis für das stetige gedankliche Abdriften, die reizüberflutende Gefühlswelle und die erstickende Distanzierung von den Mitmenschen, die Caden durchschreitet, zu wecken - und dies hat er geschafft. Dennoch kann diese sprachliche Schöpferkraft nicht über eine insgesamt recht unspektakuläre Handlung mit schwachem Spannungsbogen hinwegtäuschen.

 

Das Erzähltempo gerät ziemlich schleppend - vor allem über weite Teile in der fantastischen Ebene, in die der Protagonist zunehmend versinkt, hinweg -, sodass ich fast Erleichterung aufgrund der Beendigung der Lektüre empfand. Die Vermischung der seifenblasenartigen Imagination mit der Realitätsstufe empfand ich als unzufriedenstellend, da mir die Bildsprache teilweise zu unklar war (und mein von Verwirrung getrübtes Bild erst durch das Nachwort etwas verklärt werden konnte).

 

Am Schluss empfand ich dann doch so etwas wie väterlichen Stolz für Caden aufgrund der vorerst überwundenen psychischen Blockade und konnte erste richtige Identifikationsfläche in der Figur entdecken. Die Illustrationen von Brendan Shusterman, die der Geschichte beigefügt wurden, funktionieren gut in ihrer Aufgabe als authentische Ergänzung. Ich möchte das Buch ja unbedingt gut finden, weil es handwerklich beinahe an Perfektion reicht und für eine wichtige Botschaft Partei ergreift - aber muss dann doch ehrlich zugeben, dass es mich oftmals kaltgelassen hat. Meiner hohen Erwartungshaltung konnte es nicht genügen.

 

"Kompass ohne Norden" ist ein sprachlich herausragender Mutmacher für psychisch Erkrankte, der sich in seiner Schwere seiner bedeutungsschwangeren Bildsprache verliert und daher die Figuren vernachlässigt.

 

Ich vergebe daher noch drei von fünf möglichen Sternen.