Rezension

✎ Stephen Krensky - Superleser Leseprofis 20 Das Leben von Anne Frank

SUPERLESER! Das Leben von Anne Frank -

SUPERLESER! Das Leben von Anne Frank
von Stephen Krensky

Ich stehe vor einem Dilemma ... Das Buch an sich ist gut aufgearbeitet, doch in meinen Augen ist es nicht für die angegebene Altersgruppe - Erstleser der 2. / 3. Klasse - geeignet.

Als ich damals "Das Tagebuch der Anne Frank" gelesen hatte, musste ich so einige Male in mich gehen. Ich fand es leider überhaupt nicht gut. Es ist ja "nur" ihr Tagebuch, ihre Sicht der Dinge, ihre Empfindungen, ihre Sorgen und Ängste, und man bekommt vom ganzen Drumherum gar nicht wirklich was mit. Aber genau das ist es, was man lesen bzw. wissen möchte, wenn man sich mit diesem Thema beschäftigt.
Der Film hingegen berührte mich tief im Herzen. Den haben wir damals auch in der Unterstufe im Unterricht gemeinsam geschaut und dann darüber gesprochen.

Und hier ist bereits der gravierende Unterschied: in der Unterstufe. Das vorliegende Werk hingegen ist für Kinder der Grundschule, der 2. / 3. Klasse empfohlen. Das heißt, die Kinder sind 7-9 Jahre alt, lernen gerade, was sich ihrem Umfeld befindet (Heimat- und Sachkunde) und können sich die Dimensionen eines Weltkrieges  - eines Völkermordes! - (wahrscheinlich) noch gar nicht richtig vorstellen.

Dazu werden die Kinder mit knallharten Fakten konfrontiert:

»Die Todeslager hatten einen anderen Zweck: Hier wurden die Gefangenen getötet.« (S. 61)

»[...] und ich habe große Angst davor, dass man das Versteck entdeckt und uns erschießt.« (S. 81)
(aus dem Tagebuch der Anne Frank)

»Alle, die zum Arbeiten zu schwach schienen, wurden sofort zum Tode verurteilt,
also vor allem ältere Menschen und Kinder.« (S. 96)

Möchte ich wirklich, das meinem 7-Jährigem Kind so etwas liest? Kann ich ihm / ihr das einfach so ins Gesicht knallen in diesem Alter? Für mich ist das zu viel. Damit können manche Erwachsene nicht umgehen. Wie sollen das so kleine Seelen verarbeiten können? Wie wirkt ein Mensch wie Adolf Hitler auf sie? Kann ich sicher sein, dass sie keine Ängste entwickeln, dass so etwas (hoffentlich) nie wieder passiert?

Hier ist ganz viel psychologische Hilfe gefragt! Eltern / Mitlesende müssen das Kind, welches dieses Buch zu Hause hat, eng begleiten.
Und da liegt noch ein Problem: Manche Kinder haben keine Begleitung. Sie lesen, was ihnen in die Hände fällt. Vielleicht haben sie glücklicherweise einen Bibliotheksausweis oder eine Schulbibliothek, in der sie solch ein Buch ausleihen können. Und dann? Sind sie alleine ... Ich mag es mir gar nicht vorstellen, was in diesen Kindern nachher vorgeht ...

Dennoch ist das Werk super aufbereitet.
Man bekommt sehr viele Informationen über den Zweiten Weltkrieg - und eben nicht nur über Anne Frank und ihre Familie.
Fotografien lassen das Geschehene realistischer wirken. (auch wenn ich heute (als Erwachsene) noch immer nicht begreifen kann, wie so etwas tatsächlich stattfinden konnte)
Viele Begriffe werden bereits auf den Seiten, auf denen sie verwendet werden, erklärt. (und hinten noch einmal wiederholt) So können Fragen direkt beantwortet werden.

Die Illustrationen hingegen finde ich schrecklich. Vielleicht dem Alter angemessen (kleine Köpfe, große Körper), jedoch nicht passend zur Lektüre.

Um das Ganze abzurunden und nochmals auf den Punkt zu bringen, gibt es am Schluss Annes Stammbaum, eine Zeitleiste, ein Quiz, ein Personenverzeichnis, ein Glossar und eine Anleitung, um selbst ein Tagebuch zu führen.
Bei dem Glossar hätte ich mir die Seitenzahlen dazu gewünscht, damit man die Begriffe nochmals im Kontext nachlesen kann. So muss man leider erst ewig suchen. Bei 120 Seiten nicht immer ganz einfach.

Wie anfangs bereits erwähnt, bin ich mit der Einstufung fürs Alter komplett unzufrieden. Selbst bei Antolin.de wird "ab Klasse 4" angegeben. (was ich immer noch recht früh finde, womit ich mich jedoch besser anfreunden kann als Klasse 2)
Ich werde es in unserer Schulbibliothek bei den Kindern der Klasse 5 & 6 einordnen und denke, dass es dort am besten aufgehoben ist. Es voll mit Informationen, doch nicht zu überladen. Die Sprache ist verständlich und das Verhältnis zwischen Text und Bild absolut angemessen bei diesem Thema.

Von mir gibt es daher zwar eine Leseempfehlung, jedoch NICHT für das empfohlene Alter. 

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