Rezension

Tödlicher Verlauf einer Magersucht

Engel haben keinen Hunger
von Brigitte Biermann

Bewertet mit 5 Sternen

Das Buch begleitet den Krankheitsverlauf einer Magersucht (Anorexia nervosa) über vier Jahre bis zum Tod. Es handelt sich um eine wahre Geschichte, die anhand von Tagebuchaufzeichnungen und zusammen mit der Familie,  Freunden sowie Therapeuten und Ärzten der Betroffenen rekonstruiert wurde.

Die 15jährige Katrin lebt mit ihrer älteren Schwester bei den Eltern. Die Familiensituation scheint harmonisch und nahezu perfekt zu sein. Katrin ist ein hübsches und beliebtes Mädchen, das viel und gerne Sport macht und sich darin sonnt, von den Jungs bewundert zu werden. Sie war nie dick, sondern bei einer Größe von 1,76 m mit 56 kg bereits unterhalb ihres Idealgewichts.

Es beginnt mit einer harmlos anmutenden Diät, die im Zusammenspiel mit gesteigertem Bewegungsdrang recht schnell zu einem Gewichtsverlust von 6 kg führt. Fortan geht es gewichtsmäßig steil abwärts und keine der zahlreichen Therapieansätze greift. Die einst so stabile Familienstruktur löst sich zusehends auf und alles dreht sich nur noch um Katrin, die immer weiter absackt...bis zum bitteren Ende.

Das Buch widmet sich dem Thema Magersucht schonungslos. Es wird gezeigt, dass es sich um eine Krankheit handelt, die mitunter nicht behandelbar sein kann - trotz intakter Familie und trotz bestem therapeutischen Angebot. Daran trägt niemand Schuld. Ob die Betroffenen es schaffen, sich aus dem Teufelskreis zu befreien oder nicht, das liegt nicht in der Macht der Außenstehenden. Angehörige, Ärzte und Therapeuten können nur Angebote machen und Wege aufzeigen. Ob der Betroffene sie beschreitet, das entscheidet ganz alleine er selbst.

Ich habe noch selten ein Buch zu dem Thema in der Hand gehabt, in dem so präzise der tägliche Terror durch die Mahlzeiten und die grenzenlose Hilflosigkeit und dadurch bedingte Bereitschaft für die absurdesten Therapien aufgezeichnet wurde. Die Eltern würden alles hergeben, nur damit der Tochter geholfen wird. Aber sie konnten sie dennoch nicht vor sich selbst retten.

Ich glaube, dass zu spät erkannt wurde, was mit dem Mädchen geschieht, und dass der Fokus zu stark auf die selbstbestimmte Ernährung gelegt wurde. Ab einem bestimmten BMI ist der Hirnstoffwechsel der Betroffenen so stark verändert, dass die Therapiefähigkeit nicht mehr gegeben ist. Ab dieser Grenze muss interveniert werden. Ich kenne in diesem Zusammenhang die 40 kg-Marke, die individuell angepasst werden kann, aber grobe Gültigkeit besitzt. Bei Katrin hat man diese Grenze ignoriert und sie letztlich sich selbst überlassen. Dass jemand, der derart in dem Teufelskreis gefangen ist, nicht in der Lage ist, sich verantwortungsvoll zu ernähren, sollte klar sein. Und dass die Familie diese Kämpfe täglich mitgefochten hat, war für niemanden sonderlich hilfreich.

Diese innere Stimme des Über-Ichs bzw. Gewissens, die einen in Schach hält, habe ich selbst kennen und hassen gelernt. Und ich weiß aus Erfahrung, dass die Denkstrukturen sich mit dem sinkenden Gewicht umfassend verändern. Es ist nicht nur die Selbstwahrnehmung, die verzerrt ist, es sind vor allem die Selbstdisziplin und das "Über-Sich-Hinauswachsen", die sich verselbstständigen und gegen das Selbst richten. Man kann nicht mehr zwischen dem eigenen Willen und dem von den Stimmen auferlegten Willen unterscheiden und verliert zunehmend die Kontrolle. Das einzige, was man noch zu kontrollieren können glaubt, ist das Gewicht, weil die Waage ja nicht lügt. Und die magische Zahl, die sie anzeigt, kann nicht niedrig genug sein. Sie hat mit einem selbst letztlich nichts mehr zu tun (und mit einem gesunden Körpergewicht schon erst recht nicht).

Ich finde es sehr mutig und ehrenwert, dass die Familie von Katrin dieses Buch veröffentlicht hat und damit einen Blick hinter die Kulissen gewährt. Ich kenne so viele Menschen, die sich gar nicht vorstellen können, was sich tatsächlich hinter dem Begriff Essstörung oder Magersucht verbergen kann. Es ist eben kein Tick oder Spleen, den man jederzeit wieder abstellen kann. Es ist viel mehr als das. Und das Essen ist dabei nur ein Mittel zum Zweck.