Rezension

Traumatische Kindheit und Jugend...

Erste Töchter -

Erste Töchter
von Ljuba Arnautovic

Bewertet mit 4 Sternen

Sehr komprimierte Familiengeschichte, viele historische Hintergrundinformationen, im Stil sehr distanziert - und dennoch... Es hat auch was!

Karl kehrt nach zwölf Jahren Gulag mit russischer Ehefrau und zwei Töchtern nach Wien zurück. Von dem, was ihm passiert ist, will man im Nachkriegsösterreich nichts wissen. Den „Russen“ begegnet man bestenfalls mit Misstrauen. So rasch wie nur möglich und mit allen Mitteln muss deshalb der gesellschaftliche Aufstieg gelingen. Karl lässt sich scheiden, heiratet eine junge Medizinstudentin, zieht nach Deutschland, knüpft zweifelhafte Verbindungen nach Moskau – und trennt seine Töchter. Lara und Luna wachsen fortan in verschiedenen Welten auf: die eine in einfachen Verhältnissen bei der Mutter in Wien, die andere beim Vater und seiner neuen bürgerlichen Familie in München. (Verlagsbeschreibung)

Autofiktion - unter dieser Prämisse werden derzeit viele Romane geschrieben. Wie viel Fiktion hier in diesem kurzen Buch beinhaltet ist, weiß man nicht. Viel Autobiografisches ist jedoch eingeflossen - und "Erste Töchter" ist offenbar ein Folgeband von "Junischnee", den ich aber noch nicht gelesen habe. Luna scheint das Alter Ego der Autorin Ljuba Arnautovic zu sein, die Erzählung widmet sich jedoch auch anderen Charakteren, vor allem ihrer Schwester Lara und dem Vater.

Der Vater Karl dominiert das Geschehen, er schiebt die Figuren in seinem Umfeld wie beim Schach hin und her, Bauernopfer werden achselzuckend in Kauf genommen. Ehefrauen werden sitzen gelassen, wenn sich etwas Besseres ergibt, die Kinder immer wieder aus ihrer Umgebung gerissen und, wenn es den Zwecken Karls dient, auch ins Kinderheim abgeschoben. Seine Gerissenheit setzt Karl ein für endlose Manipulationen, kalt, hartherzig, egozentrisch, hochstaplerisch, rücksichtslos, narzisstisch. Seine eigene Zeit in Russland (zwölf Jahre Gulag!) hat ihn natürlich geprägt - aber wie immer gilt: das ist eine Erklärung, keine Entschuldigung. 

Die intensive Beschäftigung der Autorin mit der Geschichte ihres Vaters bietet ihr womöglich ein Verstehen, macht die erlittenen eigenen Traumata dagegen kein bisschen weniger schlimm. Die Trennung von der Mutter, die Heimaufenthalte, sie als die Ältere mit Verantwortungsgefühl der Jüngeren gegenüber und gleichzeitig die Ohnmacht, doch nichts ausrichten zu können, die Stiefmutter und die erneute Trennung, der Leistungsdruck des Vaters ohne dass sie den Erwartungen entsprechen konnte (gymnasialer Zweig), immer wieder verfrachtet in neue Lebenssituationen ohne eine wirklich konstante verlässliche Bezugsperson. Urvertrauen, Bindungssicherheit, Selbstbewusstsein - sicherlich Fremdwörter für Luna. 

Ergänzt wird die Familiengeschichte durch Anmerkungen zum jeweiligen politisch-gesellschaftliche Geschehen, was bei der zeitlichen Einordnung der Handlung hilft. So sind nicht alle "Erziehungsbesonderheiten" des Vaters ausschließlich auf seine Persönlichkeit und seine seelischen Narben zurückzuführen, vieles passt einfach auch ins damalige Zeitbild. Die Literatur und später die eigene Politisierung (auch hier sind die Querverweise auf das damalige politsch-gesellschaftliche Geschehen hilfreich) sind bedeutsame Anker für Luna, die ihr helfen, nicht zusammenzubrechen. 

Die Autorin hat einen sehr distanzierten, nahezu berichthaften Schreibstil gewählt, der Emotionen vollkommen außen vor lässt - vielleicht eine Möglichkeit, beim Schreiben selbst die notwendige Distanz zu den vielen traumatischen Erlebnissen einhalten zu können? Einzelne Sätze lassen aber doch anklingen, was die jeweiligen Ereignisse ausgelöst haben. Und manchmal war es, als wallten bei mir stellvertretend die Emotionen auf, die die Autorin im Text selbst verweigert. 

Ein kurzes Buch - ich mag hier nicht "Roman" schreiben - das gegen Ende doch irgendwie unfertig wirkt. Im letzten Drittel wirken die Szenen arg zusammengestückelt, Episoden, die wohl unbedingt noch geschildert werden sollten ohne dass sich mir immer ein Bezug erklärte. Manches bleibt im Unklaren, was ich gerne aufgelöst gewusst hätte, eine klare Linie fehlt letztendlich.

Alle in allem: sehr komprimiert, sehr distanziert - und dennoch... Es hat auch was!

 

© Parden