Rezension

Typischer Modiano

Unfall in der Nacht - Patrick Modiano

Unfall in der Nacht
von Patrick Modiano

Bewertet mit 4.5 Sternen

"Spät in der Nacht, vor sehr langer Zeit, kurz bevor ich volljährig wurde, da überquerte ich die Place des Pyramides in Richtung Concorde, als ein Wagen aus der Dunkelheit auftauchte."
Mit einem dieser typischen Modiano-Anfangssätze beginnt auch "Unfall in der Nacht", der 2006 auf Deutsch erschienene Roman von Patrick Modiano. 
Auch sonst ist der kurze Text wieder eine gekonnte Variation der Themen, die den Autor in all seinen Büchern beschäftigen: das Erinnern und das Vergessen, die Flüchtigkeit menschlicher Beziehungen, die verlorene Zeit, die Schickalshaftigkeit des Lebens. 
Hier tauchen viele seiner Motive in besonderer Verdichtung auf. Die meisten lassen sich auf autobiographische Wurzeln zurückführen: die unstete Kindheit mit den häufigen Ortswechseln an der Seite seiner Mutter, einer Schauspielerin, der verschwundene Vater, das Leben in Internaten. Alles Aspekte, die verstehen lassen, warum Modiano mit solcher Leidenschaft und Hartnäckigkeit immer wieder Erzähler auf die Suche schickt nach verschwundenen Personen und Orten und nach Erinnerungsfetzen, ihren Assoziationsketten folgt, Vergangenes dem Vergessen zu entreißen sucht.
"Das Vergessen frisst mit der Zeit ganze Abschnitte unseres Lebens auf und manchmal winzige Verbindungsstücke."
Dagegen kämpfen Modianos Erzähler und damit auch ihr Autor an. Oft tun sie dies mit Hilfe von Adress- und Tagebüchern oder Fotografien. Der Erzähler blickt in höherem Alter aus der Gegenwart zurück, ganz auf sein typischerweise unzuverlässiges Erinnern angewiesen versucht er einen Teil seines Lebens zu rekapitulieren.
"Ich komme in das Alter,in dem das Leben langsam die Tür hinter sich zuzieht."
Die zentrale Geschichte spielt wie fast immer in den 60er Jahren in Paris. Ein nächtlicher, recht harmloser Unfall setzt bei dem Ich-Erzähler, einem jungen Studenten Erinnerungen an einen anderen Unfall in seiner Kindheit und an diese Kindheit selbst in Gang. Dabei sind wieder einmal die obskure Gestalt des Vaters, die der junge Mann nur hin und wieder in Cafés trifft und ein großer schwarzer Hund wichtige Motive. Cafés sind wichtige Handlungsorte bei Modiano, genauso wie die rätselhafte Frau, hier die verschwundene Unfallverursacherin, der der Erzähler durch die Straßen Paris nachspürt, eine immer wiederkehrende Figur ist. Die Geschichte beginnt recht kafkaesk und bleibt sehr vage. Es ist eine Schattenwelt in die der Leser abtaucht, voll mit schicksalhaften Zeichen, Déjà-vues und wiederkehrenden Geschehnissen.
"Ich hatte gelesen, dass der Zufall nur eine sehr begrenzte Menge von Begegnungen herbeiführt. Dieselben Situationen, dieselben Gesichter kehren wieder,..."
Dazu kommen lose Rückblicke von der Gegenwart in die jüngere Vergangenheit, auf Begebenheiten, die mit dem Unfall und den damaligen Personen und Ereignissen in Zusammenhang stehen. 
Eine Rezensentin sprach einmal von "Zeitlöchern", die sich im Werk von Patrick Modiano auftun. Punkte, an denen sich die Zeitebenen und mit ihnen die Realitäten und Identitäten vermischen. Beim Leser löst das eine gewisse Art der Verunsicherung, des Zweifels aus. Der Erzähler und sein Leben bleiben nebelhaft und ungreifbar.
Neben dieser vagen, schwebenden Handlungs-, Zeit- und Personenebene steht immer eine geradezu penible Orts- und Detailgenauigkeit. Wie auf einem Stadtplan folgt man dem Autor durch die Straßen von Paris und saugt deren Flair ein. 
Das Ganze ist wieder im typisch eleganten, schwerelosen Stil erzählt und bereitet von daher besonders dem mit Patrick Modianos Werk etwas vertrauten Leser großes Lesevergnügen.
 

Kommentare

wandagreen kommentierte am 12. Dezember 2014 um 19:10

Danke Pedi. Wenn das so weitergeht mit dir und ihm, wird Ein junger Hund das letzte Buch bleiben, das ich lese vom guten Patrick. Doch ich würde mal mit ihm ins Café Flor gehen. Eventuell. Wenn er verspricht, nicht über seine Bücher zu reden ... ;-))

Pedi kommentierte am 13. Dezember 2014 um 16:16

Geh doch lieber mal mit mir. Ich rede dann auch ganz bestimmt nicht über Modiano ;)

wandagreen kommentierte am 13. Dezember 2014 um 16:33

Warum nicht? Ich halte das aus. Bei den Autoren ist das was anderes, die hören nie wieder auf davon zu reden! Ja, das wäre eine gute Idee, ein Paristrip mit dir. Modiano in Paris zu lesen, hätte bestimmt das gewisse Etwas. Und wenn er mir gar zu tröge wär, gäbs da noch Rotwein ... nirgendwo so rot wie in Paris! Die Seine ... und einen Maigret nehmen wir auch mit, n'est-ce pas?

Pedi kommentierte am 13. Dezember 2014 um 16:36

Und gutes Schhwerk! Dann laufen wir mal Modianos Strecken ab. Auf Montparnasse stehe ich zwar nicht so, aber wir finden sich auch andere Ecken. Wie stehts mit Fred Vargas? Nehmen wir die auch mit?

wandagreen kommentierte am 13. Dezember 2014 um 16:38

Kenn ich nicht. Bin da auf deine Empfehlung angewiesen. Wenn du dein Ok gibst, dann ja. Und das mit dem Ablaufen ist super. Viellicht mit Presse? Auf den Spuren Modianos? Das bringt die Kohle, die wir für den Trip brauchen. Wir machen auch einen Bericht für wld, aber nur, wenn wir die Bücher für unsere Punkte kriegen, die wir wollen.

Pedi kommentierte am 13. Dezember 2014 um 16:44

Ausgesprochen gute Idee!