Rezension

Über Freundschaft, Menschen und das Kindsein

Mein ziemlich seltsamer Freund Walter -

Mein ziemlich seltsamer Freund Walter
von Sibylle Berg

Bewertet mit 4 Sternen

"Wie kann ich es höflich sagen? Das Wetter ist halt echt nicht toll, und außerdem haben alle ein wenig Angst vor diesen Menschen. Es heißt, dass sie Fremde nicht so mögen." "Fremde. Und Leute, die Bücher lesen. Und Dicke. Und Dünne. Und Schwarze und Rothaarige. Das ist korrekt. Aber ansonsten ist die Erde ganz in Ordnung. [...]" (S. 64)

Lisa ist ein trauriges Mädchen. Ihre Eltern sind arbeitslos und deshalb lethargisch. Am Spielplatz wird sie tagtäglich von Jugendlichen gequält und von ihren Mitschüler:innen gemobbt. Nichts möchte sie mehr, als erwachsen sein. Nur ihr selbstgebauter Computer und der Blick ins All bereiten ihr Freude. Eines Nachts tauchen Außerirdische auf, die sofort wieder flüchten - doch zurück bleibt einer von ihnen: "Walter". Mit ihm lernt sie die schönen Seiten des Lebens kennen und findet schlussendlich ihre Freude am Kindsein.

"Mein ziemlich seltsamer Freund Walter" ist ein Kinder-Comicroman von der Schriftstellerin Sibylle Berg und dem Illustrator Julius Thesing, der auch Erwachsenen eine kurzweilige Lesefreude bereitet. Der Schreibstil strotzt trotz einer depressiven Grundstimmung vor Humor und Leichtigkeit, was die großartigen Zeichnungen von Thesing in Schwarz-Weiß gekonnt in Szene setzen. Durch den Außerirdischen Walter lernt das Mädchen Lisa scheinbar erstmalig Freundschaft kennen und auch die Tatsache, dass es viele Vorteile bringen kann, wenn man sich situationsbedingt unterschiedlich verhält. So lernt Walter Lisa, wie sie sich verbal gegen die tyrannisierenden Jugendlichen wehren oder wie sie ihre Lehrerin für sich gewinnen kann. Allen voran aber zeigt er ihr, welche Stärken in ihr stecken. Das ist gar nicht so einfach, denn Walter scheint aus einer Welt zu stammen, in dem Geschlechter(rollen) nicht mehr existieren und das System Kapitalismus unbekannt ist. Irgendwie (wie genau, bleibt den Lesenden vorenthalten) schafft der Außerirdische es sogar, dass Lisas Eltern wieder zu ihrer Lebenslust zurückfinden.

Grundsätzlich sind viele Moralen, die in "Walter" erzählt werden, treffsicher und können Kindern, die von Mobbing durch Kinder und Jugendliche und Abneigung/Ablehnung Erwachsener betroffen sind, helfen, mehr Selbstvertrauen zu geben. Die Geschichte ist scharfsinnig und kritisch und zeigt die Welt als einen Ort, an dem viel Ungerechtigkeit herrscht, die aber überwunden werden kann. Es kann Lesende dazu anregen, die Welt und das System, in dem wir leben (allen voran dem Kapitalismus und seine gesellschaftliche Ausprägung) zu hinterfragen. Besonders toll finde ich, dass ein Anstoß zur Selbstreflexion und zum Nachdenken darüber, dass andere Menschen auch anders denken, gegeben wird. Was mir persönlich aber ehrlich gesagt nicht so gut gefällt, ist, dass Lisas Eltern ob ihrer Arbeitslosigkeit vollkommener Lethargie ausgeliefert sind. Das bedient m.E. ein Klischee, das für viele arbeitslose Menschen nicht zutrifft - vor allem nicht, wenn sie, wie in dieser Geschichte, noch nicht allzu lange ohne Arbeit sind. Bei der Lehrerin sagt Walter, dass diese Lisa nicht mag, weil sie klug und stark ist und lernt ihr, sie zufriedenzustellen, indem sie ihr recht gibt. Ich würde dies meinem Kind nicht beibringen wollen, denn ich finde, es legitimiert das ungute Verhalten der Lehrperson. Deshalb gibt es für mich einen Stern Abzug.

Mein Fazit: Walter ist ein grandios gezeichneter und humorvoller Kinder-Comic, der einem gepeinigten Mädchen zeigt, wie sie sich selbst behaupten kann. Menschliches Verhalten wird dabei kritisch hinterfragt. Ob die Ratschläge an die Protagonistin für alle Eltern stimmig sind, sollte vorab geprüft werden. Wie auch immer - für Erwachsene ist es jedenfalls eine kurzweilige Lesefreude.