Rezension

Ungehalten

Die Ungehaltenen, 5 Audio-CDs - Deniz Utlu

Die Ungehaltenen, 5 Audio-CDs
von Deniz Utlu

Bewertet mit 4 Sternen

Die Ungehaltenen" - welch passender Titel für dieses Debüt von Deniz Utlu. Die Protagonisten, allen voran der im Mittelpunkt stehende Ich-Erzähler Elyas, sind ungehalten in zweierlei Hinsicht: Sie sind rastlos, wütend, unzufrieden mit sich, ihrer Umwelt, der Gesellschaft, wissen irgendwie genauso wenig wohin mit diesem inneren Zorn wie wohin mit sich selbst und ihrem Leben. Sie sind aber auch ungehalten in dem Sinn, dass sie nirgendwo Halt finden. Nicht in den Familien, nicht in Traditionen, nicht in der Gesellschaft. Dabei sind es eigentlich privilegierte junge Menschen.

Da ist zum Beispiel Elyas, einziger Sohn türkischer Eltern, die einst als Gastarbeiter unter schwierigen Bedingungen nach Deutschland gekommen sind, hier jahrelang schwer gearbeitet, Familien gegründet und doch nie ganz richtig angekommen sind. Nun müssen sie sehen, dass auch ihre neue Heimat Berlin zusehends verschwindet, sich mit ausufernder Gentrifizierung mehr und mehr verändert. Dem NSU-Fall stehen sie fassungslos gegenüber. Und immer bleibt diese Sehnsucht nach der alten Heimat, die für mich besonders auch darin zum Ausdruck kommt, dass Elyas Vater nach seinem Tod in der Türkei bestattet wird. Dieser schmerzvolle Krebstod wirft Elyas ziemlich aus der Bahn. Schon davor treibt er recht ziellos durchs Leben, studiert seinen Eltern zuliebe recht lustlos Jura, kann dort auch ohne große Mühe gute Leistungen erbringen, zieht aber statt dessen lieber mit eher zweifelhaften Freunden durch die Bars Berlins, trinkt, macht wahllose Frauenbekanntschaften, bekommt sein Leben nicht in den Griff. Im Hintergrund immer dieses Gefühl als Deutscher mit "Migrationshintergrund" doch nie richtig dazuzugehören. Im Gegensatz dazu verbindet ihn mit seinen Eltern und seinem Nenn-Onkel Cemal ein sehr liebevolles, verantwortungsvolles Verhältnis, auch wenn Elyas immer wieder versucht sich dem zu entziehen.

Auch die junge Ärztin Aylin gehört zu den "Ungehaltenen". Auch sie, äußerlich sehr erfolgreich und integriert, hadert mit ihrem Status als Deutsch-Türkin. Die Ehe ihrer Eltern ist zerbrochen, die Mutter in die Türkei zurückgekehrt. Nun ist auch ihr Vater sterbenskrank. Durch die Ähnlichkeit ihrer Situation kommen sich Elyas und Aylin näher, beide sind von einer tiefen, dumpfen Traurigkeit bestimmt. Zunächst unabhängig voneinander fliehen beide regelrecht nach Istanbul. Aus dem Berlinroman wird nun eine Art Road-novel, als die beiden zusammen mit dem ebenfalls in der Türkei weilenden Berliner Freund Hekim nach Trabzon, im Nordosten der Türkei am schwarzen Meer gelegen fahren. Aber auch hier müssen sie erfahren, dass sich an ihrer Orientierungslosigkeit auch durch eine "Rückkehr" nichts ändert. Weiterhin müssen sie sich damit auseinandersetzen, was Elyas einmal so ausdrückt: "Die Aufgabenstellung, die unlösbar war, bestand nur aus zwei Silben, nur aus einem einzigen Wort. Sie hieß: Le-be!"

Deniz Utlu schreibt in einer jungen, rauen Sprache, die manchmal ins poetische kippt, dann manchmal auch leicht den Kitsch streift, aber immer authentisch wirkt. Sie beschreibt anschaulich den Kampf um Orientierung, um einen Platz in der Gesellschaft, den viele junge Menschen, nicht nur mit Migrationshintergrund kämpfen. Besonders beeindruckend ist er da, wo er von der Elterngeneration erzählt, Rückblicke in die 60er und 70er Jahre gibt, in der soviel Hoffnung bestand. Dass viele dieser Hoffnungen scheiterten, sollte auch uns etwas ungehalten machen.

Stipe Erceg liest das Buch spröde und leicht gebrochen vor, was sehr gut zum Protagonisten passt. Ein "Hörgenuss" ist es eher nicht.

Kommentare

Naibenak kommentierte am 27. März 2017 um 12:40

Ich höre dieses Hörbuch derzeit und bin sehr beeindruckt! Ein schöner Roman! Mir gefäll sehr gut, wie Stipe Erceg es vorträgt! Nicht nur, weil es zum Protagonisten passt, auch sonst... ;-)