Rezension

Ungewöhnliches Familiendrama mit Mystery-Elementen

Der Kuss des Meeres - Nathalie C. Kutscher

Der Kuss des Meeres
von Nathalie C. Kutscher

Zitat: "Es war eisig kalt in dem Zimmer, und der Schatten vor der Tür wollte nicht weichen. Ihr eigener Atem wurde sichtbar, wie an einem frostigen Wintertag. Während sie mit weit aufgerissenen Augen auf den Eingang starrte, beschlich sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Stella sah ich nach allen Seiten um. Außer Patch war niemand in dem winzigen Raum. Es gab keinerlei Versteckmöglichkeiten. Als sie das knarzende Geräusch der Türscharniere vernahm, schrie Stella panisch auf."

Island ist die perfekte Kulisse für diese Geschichte und dabei fast mehr als das. Die Landschaft, die Menschen, alles wird bildhaft beschrieben und verleiht dem Buch Atmosphäre und Lokalkolorit.

Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlung ist und bleibt ein wichtiges Thema; leider ist es für viel zu viele Kinder immer noch traurige Realität. In diesem Buch wird das Thema in einer (zumindest für mich) völlig unerwarteten und dadurch unverbrauchten, interessanten Art und Weise aufgegriffen.

Die Autorin vermeidet geschickt Klischees und erzählt die Geschichte in einer ganz eigenen, unverwechselbaren Stimme. Die Spannung steigert sich von Beginn an stetig, aber es ist eine schleichende, eher unterschwellige Spannung. Der Schrecken einer traumatischen Kindheit ist dabei auf jeder Seite spürbar, manchmal ist es fast schwer zu ertragen.

Den Schreibstil fand ich überwiegend flüssig zu lesen, nur da und dort haben sich kleinere Fehler und etwas holprige Stellen eingeschlichen.

Ich weiß nicht, ob ich dieses Buch als Thriller bezeichnen würde; Ich empfand es eher als eine Mischung aus psychologischer Studie und Familiendrama, mit einem (zweideutigen) Mystery-Element - wobei dem Leser überlassen bleibt, ob er dieses für Wahn oder Wirklichkeit hält.

Stella und Sunna erweckten mehr und mehr Mitleid in mir, aber ich fand es schwer, für die beiden darüber hinaus wirklich tiefergehende Sympathie zu entwickeln. Stellas Charakter lässt sich nur schwer erfassen, was allerdings sicher auch beabsichtig ist - warum kann ich hier nicht erklären, sonst würde ich schon zu viel verraten.

Das Cover hat wenig mit dem Inhalt zu tun und vermittelt meiner Meinung nach auch nicht die Stimmung des Buches.

Das Ende kam für meinen Geschmack ein wenig zu abrupt, aber das ist sicher Sache der persönlichen Vorlieben.

Zitat: "Hastig durchwühlte sie den Schrank auf der Suche nach Dingen von ihrer Mutter. Es war, als hätte die Frau nie
existiert. Stella riss die Sachen aus dem Schrank, öffnete die nächste Tür und durchforstete angestrengt das Innenleben.
Nichts. Stella war einer Verzweiflung nahe. Sie suchte in den Nachttischen weiter, doch auch hier war nichts zu
finden. Keine persönlichen Dinge, weder von ihrer Mutter noch von Sunna. Voller Zorn und Enttäuschung,
schleuderte sie die Hemden ihres Vaters an die Wand. Mit den Füßen trampelte sie darauf herum und schrie ihre Wut
laut."