Rezension

Unpolitisch in der DDR?

Ab jetzt ist Ruhe - Marion Brasch

Ab jetzt ist Ruhe
von Marion Brasch

Bewertet mit 5 Sternen

Ich werde nicht so recht schlau aus Marion Brasch, Angehörige einer gebeutelten Familie der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Wo stand diese Frau? Wo steht diese Frau heute? Ist das Attribut „fabelhaft“ ironisch gemeint?

Ist es möglich, dass ein, wenn auch junger Mensch unpolitisch bleiben kann wie es „Ab jetzt ist Ruhe“ behauptet, ist das möglich in einem Land, in dem alle Selbstverständlichkeiten des Lebens wie Essen und Trinken (Sozialistisch kommunistische Planwirtschaft, Schlangestehen), Wohnen und Schlafen (Plattenbau, Städteverfall) Erziehung (Der sozialistische Mensch) und Arbeiten (Plansoll), ja sogar Atmen (Industriemüll und Kohleheizung) per se politisch waren?

in einer Familie, deren jüdische Eltern sich im englischen Exil kennenlernten, deren Vater glühender Kommunist wurde, in den Osten re-emigrierte, hoher Parteifunktionär war, deren österreichische Mutter unter den ostdeutschen Verhältnissen litt und depressiv wurde und starb, deren drei ältere Brüder sich, jeder auf seine Weise, gegen die Staatsdiktatur auflehnten, jeweils einen hohen Preis dafür zahlten (Kerker, Ausweisung, Alkohol-, Drogen- und Tablettensucht, faktisches Berufsverbot, Depression, früher Tod), in einer Famile, die aus den angeführten Gründen nichts anders als eben gerade hochpolitisch sein konnte, da soll ein junges Mädchen ungerührt seinen Weg gegangen sein? Ungereimtheiten und Rechtfertigungen, Marion Brasch war MitläuferIn in der SED.

Die Autorin erzählt auf eine seltsam ungerührte und doch wiederum mitreißende Art von ihrer Jugend in der ehemaligen DDR. So viel Unglück in einer Familie, die durch den Schriftsteller Thomas Brasch und den früh verstorbenen Schauspieler Klaus Brasch einen gewissen Bekanntheitsgrad auch im Westen hatte. Damit kommt man wohl nur klar, wenn man distanziert bleibt.

Der Konflikt innerhalb der Familie zwischen dem systemkonformen Vater, zum Teil auch der Mutter, und den rebellierenden Söhnen, war lautstark, dennoch wurde viel geschwiegen, unter den Teppich gekehrt, getan als wäre nichts, und übel genommen. Offenheit gehörte definitiv nicht zu den Tugenden der Familie.

Ärger bereitet mir die Angewohnheit der Autorin, Dinge nicht beim Namen, sondern mit Codeworten zu benennen, so wird der hilfreiche Schriftsteller, der Thomas Brasch im Westen etwas unter die Arme griff, damit er Fuss fassen könne (!) als „der Dichter mit der weiten Stirn“ betitelt, die Lebensgefährtin des mittleren Bruders ist „die helle Tänzerin“, den letzten Film, in dem Klaus Brasch mit wirkte, bevor er sich aus dem Leben brachte, musste ich im Netz nachschlagen, und die grosse Tageszeitung, in der sie selbst als Setzerin arbeitete, wird wohl das „Neue Deutschland“ gewesen sein, dann gibt es noch einen Gitarristen mit der grossen Nase und andere Metaphern, die ich nicht auflösen kann. Typisch DDR. Dabei wären hier gerade die Namen interessant gewesen, weil es ja Zeitgeschichte ist. Meine Zeitgeschichte, und da will ich keine Kryptik, auch wenn und weil ich kein Insider bin.

Ich bleibe am Ende ratlos zurück. Denn mir fehlt die Auseinandersetzung der Person mit ihrem Ich. Zu subtil, wie die Autorin das Geschehen aus heutiger Sicht wertet. Bei so viel unterdrücktem Gefühl wundert es kein bisschen, dass sie bulimisch wurde und um ein Haar denselben Weg genommen hätte wie der Rest der Familie. Doch als sie schwanger wird, rettet sie sich.

Das Familienverhängnis nimmt weiter seinen Verlauf, am Ende sind alle tot bis auf Marion: Vater, Mutter, Thomas, Klaus und Peter: da habe ich geweint. Was für eine destruktive Familiengeschichte!

Fazit: Sehr gemischte Gefühle! Einerseits, andererseits. Der Schwerpunkt des Gefallens liegt eindeutig auf der Qualität der Autorin: sie beherrscht ihre Materie bis in den kleinen Finger und hält trotz aller Einwendungen meinerseits ihren Leser bei der Stange, sie schreibt einfach genial!