Rezension

Venedig 1943 - komplexer Krimi

Garten der Engel -

Garten der Engel
von David Hewson

Bewertet mit 5 Sternen

Nico hat zuhause sturmfreie Bude; sein Vater ist auf Geschäftsreise und seine Mutter war vor kurzer Zeit in ihre Heimat England zurückgekehrt. Bei seinem Besuch des sterbenden Nonno Paolo vertraut der Senior eines Textilunternehmens seinem 15-jährigen Enkel seine Lebenserinnerungen an, die bewusst nur an ihm gerichtet sind. Nico soll die fünf Hefte nacheinander lesen, jeweils mit dem Nonno darüber sprechen und erst dann die Fortsetzung erhalten. Paolo Ucello war 1943/44 als 18-Jähriger im von den Nationalsozialisten besetzten Venedig in ähnlicher Situation wie Paolo. Seine Eltern waren auf einer Geschäftsreise einem Bombenangriff zum Opfer gefallen, und er blieb allein mit der Verantwortung für einen bröckelnden Palazzo und eine kriselnde Jacquard-Weberei am Canal Grande. Paolo ist noch nicht volljährig; er hatte seit seinem 12. Lebensjahr in der Firma gearbeitet, um zum Lebensunterhalt beizutragen. Die eingestaubte Weberei hatte sein Vater zuvor wieder in Betrieb genommen; ein geheimnisvoller lukrativer Auftrag aus Verona sollte die Geschäfte wieder florieren lassen. Paolos einziger Kontakt ist Chiara, die früher Textilarbeiterin im Unternehmen war und heute den Haushalt der Ucellos führt. Als in der Lagune die Leiche der jüdischen Venezianerin Isabella gefunden wird, enthüllt ihr Tod das komplizierte Zusammentreffen einer katholischen Mehrheit, der bisher weltlich lebenden jüdischen Gemeinde, von Polizei, Besatzern – und wie Paolo bald erleben wird: der entschlossenen Widerstandsbewegung.

Der Leichenfund  hatte den abgelegenen Palazzo der Ucellos ins Rampenlicht gerückt; Paolo soll in der Folge die Geschwister Micaela und Giovanni Artom verstecken und nach außen den Schein aufrechterhalten, dass er weiter der einzige Bewohner ist. Das Anwesen erweist sich als raffiniert gewählter Schauplatz; denn auch wenn in der Stadt kaum etwas unbeobachtet bleibt, kann der hinter hohen Mauern verborgene alte Kasten von der Lagune aus ungesehen erreicht werden. Im äußerst spannenden Wettlauf um das eigene Überleben werden konkurrierende Grüppchen heran gezoomt: der Vorsitzende der kleinen jüdischen Gemeinde, der seine Mitglieder vor der Deportation bewahren will, der katholische Pater Filippo Garzone auf der Seite der Partisanen, der einheimische Polizist Luca Alberti, der zum Tod Isabella Finzis recherchiert als Kollaborateur, der niemanden verraten will, und die Besatzer wie Oberg, über die abschätzig geraunt wird, dass sie allein zum Prassen und Trinken nach Venedig gekommen sind. Während Alberti und der Pater einander als Gegenspieler gegenübertreten, Waffen transportiert werden und Paolo nach außen den Schein wahrt, wächst im Palazzo zwischen den beiden jungen Männern eine zarte Liebesgeschichte.

Mit  routinierter Hand des Krimiautors verknüpft David Hewson in einer Rahmenhandlung der Gegenwart vor dem stimmungsvollen Hintergrund des winterlichen Venedig von 1943 ein komplex verwobenes Bündel von Handlungssträngen mit der Geschichte der Jacquard-Weberei und der überzeugenden Innensicht seiner Figuren. Das Glucksen der Kanäle im Nebel, die Spannung, ob Paolo den Schein wahren wird, die drückende Atmosphäre, in der handelnde Gruppen (Juden, Homosexuelle, Kollaborateure, Partisanen) einander wortlos erkennen, konnten mich konstant fesseln.. Die fiktive Geschichte vor realem historischem Hintergrund wirft die Frage auf, wer damals ein Held war und wer es wert ist, in Erinnerung zu bleiben. Erst als Erwachsener wird Nico im Rückblick erkennen, dass sein Nonno  ihn zum Bewahrer dieser Erinnerungen vorgesehen hat.  Vom morbiden Charme Venedigs (und dem zum Glück zeitlosen Cover-Foto) habe ich mich hier gern zum Grübeln darüber anregen lassen, wie David Hewsons Figuren jede auf ihre Art flüchten oder standhalten.