Rezension

Vererbtes Trauma, vererbte Sucht ...

Verlorene Sterne -

Verlorene Sterne
von Tommy Orange

Bewertet mit 5 Sternen

Jude Star und der Cheyenne Victor Bear Shield hatten die Ausrottung der nordamerikanischen Ureinwohner selbst miterlebt, der stumme Jude als Zeuge des Sand Creek Massaker von 1864 und beide als Gefangene von Richard Henry Pratt, der in Fort Marion/Florida Indigenen Gefangenen  anhand der Bibel Englisch einbläute, um ihre „sündhafte“  Kultur zu vernichten. Judes hellhäutiger Sohn Charles wird später immer wieder aus Internaten der Weißen fliehen. Er und Opal Viola Bear Shield (Haven), Victors Tochter, werden Ahnen der gegenwärtigen Generation sein.

In der Gegenwart wachsen  in Oakland Orvil, Lony und Loother bei ihrer Großtante auf, die in ihrer Kultur als Großmutter gilt. Orvil Red Feather, (Sohn süchtiger Eltern)  wird durch die Folgen einer Schussverletzung schmerzmittelabhängig und trifft ausgerechnet auf den nonbinären Sean Price, den ebenfalls eine langwierige Verletzung in die Abhängigkeit geführt hat. Im Team mit Seans Bruder Mike und deren alleinerziehendem Vater Tom entsteht ein fatales Geflecht aus Sucht und Kriminalität. Tom als Pharmazeut hatte für seine sterbenskranke Frau Grace ein Universal-Schmerzmittel entwickelt, aus dem wie aus einem Baukasten diverse Drogen produziert werden können, deren Wirkung noch nicht endgültig feststeht. Orvil, der vorher schon onlinespielsüchtig war, braucht seine Pillen – und er braucht zunehmend mehr Pillen, als er feststellt, dass sie Ängste und Alpträume erleichtern.

Während ich den historischen Teil der Familiengeschichte wegen des im Zickzack verlaufenden Zeitverlaufs und der zahlreichen Figuren, Ebenen und Namenswechsel anstrengend zu lesen fand, konnte mich der eindringliche Teil über Orvil und Sean mitreißen. Im Wechsel zwischen mehreren Icherzählern und allwissendem Erzähler zeigt Tommy Orange - mit großer Empathie - Sucht als Systemerkrankung einer Gesellschaft, die Traumata und Süchte von einer Generation zur anderen vererbt. Indem wir als Leser drei elternlose Jugendliche bei einer überforderten Großtante erleben, wird deutlich, wie bereits eine süchtige oder kriminelle Person eine Familie sprengen kann. Das Buch bietet mehr als  Oxicondon-Dramen. Angesichts in der Nach-Corona-Situation zunehmender psychischer Erkrankungen Jugendlicher hochaktuell, geht in Oranges vielstimmigem Epos jedoch auch um Identitätssuche, Rollenzuschreibungen, Therapien, nicht gesehene Geschwisterkinder und kulturelle Vielfalt.