Rezension

Verstörend grandioser Familien-Horror-Thriller

Unschuldsengel - Zoje Stage

Unschuldsengel
von Zoje Stage

Bewertet mit 5 Sternen

Rein äußerlich ist die kleine Hanna ein Engel. Erst recht, wenn ihr Vater Alex in der Nähe ist. Doch sobald sie mit ihrer Mutter Suzette allein ist, kommt das Teufelchen hervor. Denn Hanna will ihre Mutter töten. Und die Achtjährige arbeitet daran.

Anfangs dachte ich, dass es sich bei "Unschuldsengel" um einen üblichen Psychothriller im familiären Ambiente handelt. Vater, Mutter und Tochter spielen sich gegenseitig aus, es kommen Geheimnisse hervor und letztendlich wird ein Spannungsbogen in Richtung Ende konstruiert. 

Nein, ich habe mich eindeutig geirrt! "Unschuldsengel" ist ein genialer, zum Niederknien grandioser Thriller, der meiner Meinung nach in Richtung Horror geht. 

Der Rahmen ist relativ einfach und dennoch hochinteressant gewählt. Vater Alex arbeitet und Mutter Suzette ist auf Töchterchen Hanna konzentriert. Wenngleich sie auf den ersten Blick eine durchaus glückliche Familie sind, erweist sich Hannas Entwicklung als problematisch: Obwohl sie mittlerweile acht Jahre alt ist, spricht das Mädchen nicht. Medizinische Untersuchungen haben bisher kein Defizit ergeben, daher stellt sich die Frage, ob Hannas Unvermögen eher psychologischen Ursprungs ist.

Dabei setzt Suzette alle ihr verfügbaren Hilfsmittel ein, immerhin möchte sie eine gute Mutter sein. Doch nur sie hat das Gesamtbild ihrer Tochter im Blick. Während Hanna in der Gegenwart ihres Vaters ein wahrer Engel ist, zeigt sie bei ihrer Mutter ein komplett anderes Gesicht. Sie ist berechnend, verhält sich verstörend und wird regelrecht zur Gefahr.

Allein der Einstieg in die Geschichte hat mich sofort in den Bann gezogen. Zuerst erlebt man aus Hannas Perspektive das Geschehen, und begleitet das Mädchen, während sie bei einer Untersuchung ist. Sie wirkt nett, ein bisschen allein, und man hofft, dass sie bald aus sich herausgehen kann. 

Aber hinter dieser Fassade wartet ein gnadenlos spannendes und verstörendes Horror-Erlebnis, das einen aus den Schuhen hebt. Denn Hanna hat es auf ihre Mutter Suzette abgesehen. Während man beim Lesen immer wieder das niedliche Antlitz der Achtjährigen vor Augen hat, spinnt sie einen Plan, und nimmt die Identität einer boshaften Hexe an. Sie meint, nicht Hanna, sondern eine französische Hexe zu sein, und hofft, dass dank Magie ihre Mutter der Tod ereilt.

Obwohl es eingangs eher ruhig zugeht, war ich auf der Stelle in der familiären Situation aus Suzette, Hanna und Alex drin. Sie wirken wie die perfekte Familie, passen aufeinander auf, und unterstützen sich gegenseitig. Alex ist selbstständig und erfolgreich im Geschäft, Suzette ist von ihrer Morbus-Crohn-Erkrankung geschwächt und absolut auf ihre Tochter Hanna konzentriert. Und Hanna möchte auf keinen Fall zur Schule gehen, weil sie lieber daheim bei ihrem Papa ist.

Aus dieser - teilweise problematischen, dennoch unschuldigen Situation - entspinnt sich ein grauenhafter Horror-Sog, der den Genre-Freund an die Seiten bannt. Bildet sich Suzette das drohende Verhalten ihrer Tochter ein? Ist Hanna das Opfer einer gestörten Bezugsperson? Oder ist an der erfundenen Hexen-Identität etwas Wahres dran?

Die Atmosphäre ist derart packend, dass ich das Buch nicht zur Seite legen konnte. Schonungslos, garstig und beängstigend zieht Autorin Zoje Stage in diese bedrohliche Familiensituation rein. Vor Spannung hielt ich den Atem an, schüttelte vor Unglauben den Kopf und habe aufgrund böser Vorahnungen meine Nägel in den Buchrücken gekrallt.

"Unschuldsengel" ist einer dieser Thriller, die nichts für zarte Gemüter und schwache Nerven sind. Gänsehaut, subtiler Horror, verstörende Elemente und eine grauenhafte Boshaftigkeit haben dieses Buch für mich zum Grusel-Highlight gemacht.