Rezension

Verwundbarkeit oder Stärke?

Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin - Delphine de Vigan

Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin
von Delphine de Vigan

Bewertet mit 5 Sternen

Es ist der 20. Mai, vier Uhr morgens. Mathilde erwacht aus einem Traum, in dem ihr eine Wahrsagerin prophezeit, dass sich ihr Leben am 20. Mai ändern wird.

Es ist der 20. Mai, vier Uhr morgens. Thibault sitzt in einem Hotelbadezimmer auf dem Klodeckel und heult.

So beginnen die ersten beiden Kapitel dieses wunderschönen Buches und stellen zwei Menschen vor, mit denen es das Schicksal nicht immer gut gemeint hat. Zwei Menschen, die ein einfaches Leben führen und damit glücklich sind, bis ihr Leben eine Wendung nimmt, die alles über den Haufen wirft. Plötzlich müssen sie kämpfen und stark sein, müssen sie beweisen, dass sie schwimmen und den Kopf oben behalten können.

Mathilde und Thibault - zwei Menschen, die sich so ähnlich sind. Die beide auf der Suche sind und deren Wege sich dabei so oft kreuzen. Die auf der Suche sind nach einem Menschen, der ihnen Geborgenheit und Wärme gibt, ihnen ein offenes Ohr und eine Schulter zum Anlehnen leiht. Es ist nicht viel, was sie vom Leben erwarten, aber es ist schwierig, diese Erwartungen zu erfüllen. Einen Weg zu finden, um glücklich zu werden. Beide würden gut zueinander passen, aber sie begegnen sich stets nur flüchtig, erahnen lediglich die Anwesenheit des Anderen, schenken ihm nur einen kurzen Blick.

Delphine de Vigan ist mit "Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin" ein wunderschönes und kraftvolles Buch gelungen. Die Schicksale von Mathilde und Thibault sind so eindringlich geschildert, dass man sich ihrer sofort annimmt, ihren Lebenswegen mitfühlend folgt und ihnen alles Gute und viel Kraft wünscht. Besonders das Schicksal von Mathilde hat mich berührt. Es war für mich oft unfassbar, wie mit ihr umgegangen wird, wie sie systematisch aus ihrer Position in ihrem Unternehmen verdrängt wird und letztlich wortwörtlich im letzten Kellerloch landet: In einem Büro ohne Fenster, in einem Büro neben der Toilette, deren Wände so hellhörig sind, dass sie jegliche Toilettengeräusche ungedämpft wahrnehmen kann.

Während das Schicksal von Mathilde vorrangig Unverständnis hervorgerufen hat, hat mich das Leben von Thibault überwiegend nachdenklich gestimmt. Thibault trennt sich am 20. Mai von seiner großen Liebe, weil er erkennt, dass er nicht so zurück geliebt wird, wie er es verdient hätte. Thibault trägt seitdem ein gebrochenes Herz mit sich herum und denkt viel über die Bedeutung der Liebe und die Schmerzen, die diese verursachen kann, nach. Auch ich habe mich dadurch viel mit diesem Thema auseinandergesetzt und versucht, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum Liebe so schön ist, und gleichzeitig doch so weh tun kann. Aber diese Frage lässt sich nicht befriedigend beantworten und so kann ich Thibaults Zerrissenheit umso mehr verstehen.

Der Stil der Autorin ist einerseits warum und einfühlsam, auf der anderen Seite aber auch sehr intensiv und aufrüttelnd. Sehr eindringlich beschreibt sie das Leben der beiden Charaktere und verwehrt somit jegliches Wegschauen. Doch gleichzeitig verurteilt die Autorin nicht, sondern überlässt dies ihren Lesern. Nüchtern und klischeefrei berichtet sie von Mathildes und Thibaults Leben und allein der Leser ist es, der aus diesen Berichten Schlüsse ziehen kann.

Das 252 Seiten umfassende Buch erzählt den Ablauf eines Tages, den Ablauf des 20. Mai. Dabei folgt der allwissende Erzähler kapitelweise mal Mathilde, mal Thibault. Die Zeitform wechselt sehr oft. Ereignisse des 20. Mai sind teilweise in Gegenwarts-, teilweise in Vergangeheitsform geschrieben. Ähnlich ist es mit Berichten aus der Vergangenheit der Charaktere. Diese Erinnerungen sind auch teilweise in Gegenwarts- und teilweise in Vergangenheitsform geschrieben. Aber dies hat mich nicht gestört oder irritiert. Ich konnte der Geschichte trotzdem ungehindert folgen.

Sehr überzeugt hat mich, wie es der Autorin gelingt, die Ähnlichkeit zwischen Mathilde und Thibault zu zeigen. Denn die Gedanken der beiden Charaktere ähneln sich so sehr, dass sich dies auch im Aufbau der Kapitel zeigt. Wenn zum Beispiel ein Kapitel, das sich mit dem Leben von Mathilde beschäftigt, von ihrer Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit berichtet, findet sich dies auch im darauffolgenden Kapitel über Thibaults Leben wieder. Dieser hat oft ähnliche Gedanken wie Mathilde oder handelt ähnlich und so gelingt es der Autorin hervorragend zu verdeutlichen, dass beide nicht die einzigen Menschen in der Stadt, in dem Land oder auf der Welt sind, die Kummer mit sich herumtragen.

Ich habe das Lesen des Buches sehr genossen, auch wenn die Geschichte, die es erzählt, nicht durchweg schön ist. Aber es gibt eine klare Aussage darin: Verliere nie den Mut! Verliere nie die Hoffnung! Sei stark und glaube an dein Glück!

Mein Fazit:
* * * * * *
Ein besonderes Buch!