Rezension

Vom Ende der Herrschaft alter, weißer Männer

Das geheime Frankreich - Nils Minkmar

Das geheime Frankreich
von Nils Minkmar

Bewertet mit 5 Sternen

Nils Minkmars Großeltern lebten und arbeiteten als Lehrer in Bordeaux und prägten seine Kindheit. Im Museum der Stadt begegnete ihm schon als Kind Frankreichs Geschichte, aber auch die Erkenntnis, dass nur ausgesuchte Artefakte der Öffentlichkeit präsentiert werden, andere dagegen verborgen bleiben. Kultivierte Diskretion nennt Minkmar diese Eigenschaft unseres Nachbarlandes, die er auf dessen katholische Prägung zurückführt. Im zur Hälfte protestantisch geprägten Deutschland herrsche dagegen eine Direktheit, die im Nachbarland als Zeichen von mangelnder Kinderstube gelte. Im Gegensatz zur kultivierten Art der Andeutung drängt das Magazin Charlie Hebdo krass konfrontativ in eine Lücke, die jenseits des Rheins offenbar in der Auseinandersetzung auf politischer Ebene klafft. Von der fehlenden Aufarbeitung der Kollaboration mit dem Nationalsozialismus, über Frankreichs Vergangenheit als Kolonialmacht bis zum Ignorieren, mit welchen politischen Systemen das Land in Nordafrika Kontakte pflege, reicht Minkmars Negativliste des Verdrängens.

Einen markanten Teil in Minkmars Frankreichkunde nehmen die regionalen Spezialitäten, das Kochen und Essen ein, aber auch der wirtschaftliche Niedergang, in dessen Folge viele Franzosen sich die ehemals paradiesische Fülle nicht mehr leisten können. Mit Cynthia Fleury, die einen weltweit beachteten Lehrstuhl für Philosophie mitten im Pariser Hôtel-Dieu innehat, öffnet der Autor den Blick auf denkbare Reformen, die wir Deutschen sorgfältig betrachten sollten. Nach Fleury zeichnete sich lange vor Sarkozys Abgang ein Ende der Herrschaft alter weißer Männer ab; sie fordert deshalb die längst überfällige bürgerschaftliche und konzeptionelle Erneuerung in der Politik jenseits von politischen Parteien. Französische Mütter wurden bisher gern als Vorbild in der Vereinbarung von Beruf und Mutterschaft vorgezeigt; doch Minkmar sieht die Dinge nüchterner. In der öffentlichen Sichtbarkeit von Frauen und beim Gehaltsniveau bei gleicher Bildung wäre noch viel zu tun. Frauen wären zwar willkommen in gemischten Gruppen, kämen jedoch zu selten zu Wort. Noch herrsche in Frankreich habituelle Homogenität, man wählt Vertreter in die Parlamente, die einem selbst ähneln und zementiert damit bestehende Verhältnisse. Wenn es um mächtige Männer in ihrer Rolle als Schürzenjäger geht und um die Kultur der Verharmlosung sexistischer Übergriffe, nimmt Minkmar kein Blatt vor den Mund. Mit Bernard-Henri Lévy (*1948) und Patrick Modiano (*1945) führt Minkmar zwei charakteristische Stimmen Frankreichs an.

Nils Minkmar ergründet in seiner Charakterkunde Frankreichs, wie das Land seine Geschichte aufarbeitet, welche nationalen Eigenschaften die Reaktion auf die aktuelle Bedrohung durch internationalen Terrorismus bestimmen und welchen Einfluss Frauen auf eine generelle Erneuerung des Politikstils haben könnten. Eloquente Frankreich-Experten wie Minkmar hört man in Deutschland eher selten - auch hier wäre eine Erneuerung wünschenswert.