Rezension

Von der Krähe, die keine Krähe mehr sein konnte.

Der menschliche Makel - Philip Roth

Der menschliche Makel
von Philip Roth

Bewertet mit 5 Sternen

Coleman Silk, Professor am Athena College in Toledo, USA, bittet im Jahr 1996 seinen Nachbarn und Schriftsteller Nathan Zuckerman darum, seine Geschichte aufzuschreiben. Er ist sehr aufgebracht und hat gerade seine Frau verloren. Coleman wurde an seiner Fakultät des Rassismus beschuldigt. Er bezeichnete zwei nie anwesende Studentinnen als "dunkle Gestalten, die das Seminarlicht scheuen", ohne zu ahnen, dass es sich ausgerechnet um afroamerikanische Studentinnen handelte. Im Laufe der Rechtfertigungen und des Aufruhrs, erlag seine Frau einem Herzinfarkt. Nun beschuldigt Coleman seinerseits das College, seine Frau umgebracht zu haben.

Nathan Zuckermann lehnt dieses Ansinnen ab, woraufhin Coleman sich zurückzieht. Seinen Job hat er hingeschmissen. Statt dessen nimmt sich der 71jährige eine 34jährige Geliebte, ausgerechnet eine analphabetische Putzfrau vom College, die aus schwierigen Verhältnissen stammt. Diese Liebschaft bliebt nicht unentdeckt und so lässt der nächste Skandal, dass ein alter, jüdischer Mann eine unterprivilegierte junge Frau sexuell ausbeutet, nicht lange auf sich warten.

Die Geschichte ist weitaus komplexer, als diese sehr vereinfachende Zusammenfassung vermuten lässt, denn hinter jeder Figur steckt ein ganz eigenes Leben mit seinen Selbsttäuschungen, Sehnsüchten und zurückgelassenem Gepäck, welches mit zuverlässiger Kraft gerade dann wieder auftaucht, wenn Mensch meint, es ohne diese Belastung geschafft zu haben. Zudem ist die Handlung in eine Zeit der Vereingten Statten verortet, die angefüllt ist mit Rassismusdebatten, dem Clinton-Lewinsky-Skandal und der Traumatabewältigung der Kriegsveteranen.

Beim Lesen fällte ich meine Urteile über Coleman, Delphine Roux (Colemans Gegenspielerin am College), Faunia (Colemans Geliebte) und vor allem Faunias Exmann (Vietnam-Veteran) ziemlich schnell, doch mit jedem Abschnitt und mit jedem Schritt in die Vergangenheit der Figuren, musste ich sie neu überdenken. Roth überraschte mich immer wieder aufs Neue und überführte mich quasi dem gleichen Vergehen, wie der Menschen in diesem Roman, nämlich vorschnell zu urteilen.

Nichts ist so, wie es scheint. Jeder ist auf der Suche nach dem Glück und versucht dabei seine Haut abzustreifen. Doch so wie die von Menschenhand aufgezogene Krähe nicht mehr von ihrem Krähenvolk verstanden wird, so darf sie nicht darauf hoffen, als Mensch behandelt zu werden.

Ein vielschichtiger, virtous komponierter Roman, mit dem Talent, den Leser in ein Gedankenlabyrinth zu ziehen.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 28. Juni 2022 um 18:12

Ein Klassiker, der seinerzeit Aufsehen erregte. Ich habe ihn leider nicht selbst gelesen.