Rezension

Von einem verlorenen Mädchen und der Macht der Zufälle

Das zufällige Leben der Azalea Lewis - John Ironmonger

Das zufällige Leben der Azalea Lewis
von John Ironmonger

Bewertet mit 5 Sternen

Dass ein kleines Kind davonmarschiert und verlorengeht, für das ich verantwortlich bin, gehörte schon immer zu meinen Urängsten. Genau das passiert Azalea Ives auf einem Rummelplatz in Devon. Ihre roten Haare lassen vermuten, dass sie irischer Herkunft sein könnte. Das kleine Mädchen berichtet der Polizei, dass sie mit ihrer Mutter auf dem Weg zu ihrem Daddy war, der auf einem Boot lebt. Auch mit einiger Phantasie können die Polizisten keine Familie Ives finden. Später wird eine falsche Zeitungsmeldung über Azaleas Schicksal entscheiden. So kommt das Mädchen in eine Pflegefamilie und wird von den Folleys adoptiert, die mit ihr in einer anglikanischen Missionsschule in Uganda leben. Die Landkarte vorn im Buch weist darauf hin, dass Ereignisse in dieser Region eine Rolle in Azaleas Leben spielen werden. Den Namen Lewis erhält Azalea bei einer weiteren Adoption. Azalea wächst zu einer spröden, abenteuerlustigen Person heran, von der anzunehmen ist, dass auf tragische Weise ihre Wurzellosigkeit über ihr Leben entschieden hat. Dreißig Jahre später treffen in der Londoner U-Bahn Azalea und Thomas Post aufeinander, der an der Londoner Uni Philosophie lehrt und sich mit Zufällen befasst. Zufälle und Muster, auch die Magie von Daten, haben für Azalea eine besondere Bedeutung, darunter Wiederholungen von Kalenderdaten.

Azaleas Mutter Marion hat geglaubt, den Vater ihrer Tochter verheimlichen zu müssen. Wenn Azalea in ihrem Heimatort aufgewachsen wäre, wäre mit der Heimlichtuerei in dem Moment Schluss gewesen, in dem jemand die Ähnlichkeit zwischen Vater und Tochter erkannt hätte. Doch durch den Zufall auf dem Rummelplatz muss Azalea mit ungeklärter Identität aufwachsen und sucht noch als Erwachsene Erklärungen in Zufallsmustern. In diesem Buch gibt es verschiedene Wahrheiten und verschiedene Versionen. Als Leser tappt man lange im Dunkeln, wohin der Erzähler einen auf seiner Rallye durch Azaleas Leben am Ende führen wird.

J. W. Ironmonger verknüpft mit skurrilem britischen Humor Handlungsfäden auf zwei Kontinenten und aus unterschiedlichen Zeiten zu einer warmherzigen Geschichte, die spannend wie ein Krimi wirkt. Sein Ton klingt selbst für die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts wundersam verschnörkelt. Ironmongers Themen sind das Recht darauf, über die eigene Herkunft informiert zu sein, aber auch die Missionstradition in Afrika und Bürgerkriege der Neuzeit. Die Missionsstation, an der draußen das Leben vorbeizieht, ist eines von Ironmongers wunderbaren Sprachbildern, das einen ahnen lässt, wie stark Afrika den Autor selbst und seine Figuren beeinflusst hat. Außer dem von Bürgerkriegen zerrissenen Afrika nehmen auch Ereignisse im Nordirland-Konflikt und der Falklandkrieg Einfluss auf die Handlung.

"Das zufällige Leben der Azalea Lewis" erscheint in einer Young Adult-Reihe für Leser ab 14 Jahren. Nicht jedes Buch, in dem Jugendliche eine zentrale Rolle spielen, ist deshalb gleich ein Jugendbuch. Auch wenn die Suche nach den eigenen Wurzeln ein zentrales Thema der Pubertät ist, ordne ich den Roman als Belletristik ein, die auch von interessierten Jugendlichen gelesen werden kann. Das Buch scheint mir ein weiteres Beispiel dafür zu sein, dass Verlage im Bereich von Young Adult und New Adult viel experimentierfreudiger sind als in ihren Belletristik-Programmen und dort auch skurrilen Erzählern eine Chance geben.