Rezension

Wenn alte und junge Verschrobenheiten aufeinandertreffen

The Marmalade Diaries -

The Marmalade Diaries
von Ben Aitken

Bewertet mit 4 Sternen

Ben Aitken kann sich die hohen Mieten in London nicht leisten und findet unmittelbar vor dem zweiten Lockdown in England eine kleine Wohnung bei der frisch verwitweten Winnie (d. i. Winsome Delores Lovelock Carter). Die 85-Jährige bewohnt einen renovierungsbedürftigen alten Kasten mit riesigem Garten, Kohleöfen und gemeingefährlicher Hausinstallation. Aus Randbemerkungen ihrer ebenfalls betagten Kinder kann Ben schließen, dass der Versuch von Winnies Familie bereits gescheitert ist, sie in vertrauter Umgebung zu unterstützen. Winnie fährt noch Auto, hat ehrenamtlich als Museumsführerin gearbeitet und einige Jahre auf den Philippinen gelebt, wo Henry Carter für Shell arbeitete. Über ihren Haushalt und das Leben an sich vertritt sie entschiedene Positionen (Ich hasse Entspannung, sie bringt mich aus der Spur); das junge Greenhorn Aitken liefert in ihren Dialogen meist den ahnungslosen Städter. Als Mitte 2020 der britische Alltag durch die Corona-Epidemie zum Erliegen kommt, erweist sich die Wohngemeinschaft zwischen Alt und Jung als äußerst segensreich. – Und das, obwohl Winnies Gesprächsführung täglich neue Missverständnisse erzeugt. Als weitreichenderes Problem als Winnie im wenig seniorengerechten Gemäuer erweist sich ihr körperbehinderter Sohn Arthur, der im „Betreuten Wohnen“ lebt - und damit in der Pandemie nahezu isoliert. Ben erkennt, dass einige Dinge einfach getan werden müssen, weil Winnie sie schon immer tat – und weil sie sich ihr Leben lang schuldig daran gefühlt hat, dass Arthur (* circa 1960) mit einer Cerebral-Lähmung zur Welt kam.

Ben Aitkens Tagebuch seiner generationsübergreifenden Wohngemeinschaft umfasst den Lauf eines Jahres und besteht aus Dialogen und eingeschobenen datierten Erinnerungen Winnies. Vermutlich zeigen die gegensätzlichen Textarten Winnie abwechselnd auf der Höhe geistiger Fitness und beim scharfzüngigen Frotzeln mit Ben, das man nicht zu ernst nehmen sollte. Die Dialoge der kleinen Zweckgemeinschaft zeigen beispielhaft das Denken hochbetagter Menschen. Streckenweise schien mir Aitken ein Lehrbuch über das Altern für Auszubildende der Altenpflege verfasst zu haben. Von Winnie lässt sich einiges fürs Leben lernen, z. B. warum Orangenkerne beim Marmeladekochen nicht weggeworfen werden dürfen. Hoffentlich vergesse ich das nicht, bis ich 85 Jahre alt bin …

Fazit
Der junge Aitken steht der überaus nüchtern argumentierenden Winnie an britischer Verschrobenheit nicht nach, beiden Persönlichkeiten gibt der Übersetzer Werner Löcher-Lawrence in der deutschen Ausgabe eine glaubwürdige Stimme.