Rezension

Wenn deine Familie tot ist, stirbt auch deine Erinnerung

Junge ohne Namen - Steve Tasane

Junge ohne Namen
von Steve Tasane

Bewertet mit 5 Sternen

Heute ist der Schlamm trocken und verkrustet und weht in meine Augen. Heute habe ich Geburtstag. … “  Die Geschichte beginnt, atemlos, gleich auf dem Buchdeckel und setzt sich auf dem Vorsatzpapier fort. Kind I (im Original: Child I), hat es eilig, der junge Erzähler muss heute noch seine Geschichte aufschreiben, ehe er sie vergessen haben könnte – und Papier scheint knapp zu sein. Wenn niemand aus deiner Familie mehr lebt, du keine Geschichten aus deiner Kindheit erzählt bekommst, verschwindet deine Familie aus der Erinnerung. Sein Onkel hat den Jungen in das Boot eines Schleppers gesetzt, er nickt ein, hat kein Geld und keinen Pass mehr, als er aufwacht. Ein Pass erzählt die Geschichte eines Menschen – Biografie, Erinnerung und Identität vereinen sich hier. Wer keinen Pass hat, hat damit kein Buch seines Lebens und auch keinen Geburtstag – darum ist der zehnte Geburtstag des Jungen genau heute.

Der Junge I lebt in einem Flüchtlingslager und bildet mit den Kindern L, E und V eine eingeschworene Gemeinschaft. Die Buchstaben signalisieren ihre Zusammengehörigkeit. Wachleute sollen die Geflüchteten daran hindern, weiter in den Norden zu reisen. Wer wollte, könnte in sein Heimatdorf zurück – nur sind die Dörfer zerstört und die Bewohner getötet. Wenn Hilfsgüter geliefert werden, drängen Erwachsene die Kinder zur Seite, so dass sie nicht jeden Tag etwas zu essen bekommen. Der Junge I schließt sich einer freiwilligen Helferin an, die in einem Doppeldeckerbus einen Treff für Frauen und Kindern organisiert. Verantwortung für andere bringt wenigstens etwas Abwechslung in den öden Alltag im Lager.  Auch wenn Schule hier sinnlos zu sein scheint und jeder eine andere Sprache spricht, wer seine Geschichte aufschreiben will, muss unbedingt Schreiben lernen.

Steve Tasane erzählt Geschichten, die in Flüchtlingslagern genauso passiert sind. Er gibt den namenlosen Kindern ihre Geschichte zurück und motiviert damit andere, ihre Geschichte zu erzählen.