Rezension

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Wichtiger Roman, der auch noch spannend seine Inhalte vermittelt

Mr Enemy and I -

Mr Enemy and I
von Lillian Rose Grey

Bewertet mit 5 Sternen

Mich hat der Roman ausgesprochen fasziniert! Hier wird zwar ein Motiv durchvariiert, das in der Szene der Liebesromane sogar einen eigenen Namen trägt: Es handelt sich um eine sog. "enemies to lovers romance." Aber die Abwandlung ist ausgesprochen spannend sowie unterhaltsam gelungen und hebt sich erfrischend deutlich von den üblichen Lovestorys dieses Subgenres ab!

Vergeben & vergessen - geht das wirklich? 

Inhalt

Marissa studiert Psychologie, hat einen Freund, lebt mit einer sehr guten Freundin in einer Wohngemeinschaft und ist davon überzeugt, ihre schreckliche Vergangenheit aus der Schulzeit, als sie furchtbar gemobbt wurde, hinter sich gelassen zu haben. Als sie Zeugin eines Mobbing-Vorfalls wird, holt ihre Vergangenheit sie jedoch überraschenderweise ein: Wochenlang träumt sie daraufhin jede Nacht, wie Jakob, ihr früherer Peiniger, ihr wieder zusetzt. Besonders verwirrend für Marissa: Die Träume besitzen eine ambivalente Komponente, denn plötzlich zeigt ihr früherer Feind verstörenderweise Interesse an ihr als Frau.

Schließlich sieht Marissa keinen anderen Ausweg mehr als den, Jakob, der ein Auslandssemester in London verbringt, damit zu konfrontieren, was er ihr seinerzeit angetan hat. So hofft sie, das leidige Kapitel endlich abschließen zu können. Sie reist nach London und muss dort erfahren, dass der Täter selbst ein Opfer war; jedes Ding hat eben immer zwei Seiten - mindestens.

Parallel zu den großen persönlichen Herausforderungen, die Marissa meistern muss, fordert ein Universitäts-Projekt viel Aufmerksamkeit von ihr. Eine ihrer DozentInnen hat sie dazu verpflichtet, über Instagram einen Account zu pflegen, bei dem Mobbing-Opfer sich aussprechen und ggf. Rat holen können.

Als Marissa Jacob schließlich gegenübersteht, verläuft die Konfrontation überhaupt nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatte. Ist es überhaupt möglich, für den Peiniger ihrer letzten Schuljahre so etwas wie Mitgefühl und Verständnis, Sympathie oder gar mehr zu entwickeln ...?

Der Roman verfolgt ein enorm wichtiges "Lernziel"

Mich hat der Roman ausgesprochen fasziniert! Hier wird zwar ein Motiv durchvariiert, das in der Szene der Liebesromane sogar einen eigenen Namen trägt: Es handelt sich um eine sog. "enemies to lovers romance." Aber die Abwandlung ist ausgesprochen spannend sowie unterhaltsam  gelungen und hebt sich erfrischend deutlich von den üblichen Lovestorys dieses Subgenres ab!

Entweder ...

  • die Autorin hat eine ausgezeichnete Recherche durchgeführt,
  • sie hat einen klassischen Mobbingfall direkt in ihrer Umgebung miterlebt, ggf. sogar in der Rolle einer passiven Beobachterin,
  • war selbst Mobbing-Opfer
  • oder es trifft von allem ein wenig zu.

Jedenfalls lässt sie ihre Protagonistin Marissa in extrem eindringlicher Weise in vielen grausigen Einzelheiten schildern, was geschieht, wenn man als Opfer aufs Korn genommen und ausgegrenzt wird, um anschließend hilflos, weil völlig auf sich gestellt, psychische bzw. physische Angriffe aus einem Kollektiv heraus erleben zu müssen, das von einem geschickten Anführer manipuliert wird.

Diese Schilderungen treffen, soweit ich das beurteilen kann, den Kern der Sache.

[Ich persönlich vermute, dass man Menschen durchaus in vier Gruppen einteilen kann, die alle einen "Bezug" zum Mobbing haben:

  • Da gibt es die Opfer,
  • die passiven Mitläufer, die durch ihre Duldung den Missbrauch in ihrem Umfeld fördern, indem sie nicht dagegen Stellung beziehen,
  • die aktiven Mitläufer, die sich an der Ausgrenzung beteiligen
  • sowie die Haupttäter, also die Anführer der Attacken.

Das Bestreben, in Gemeinschaften jemanden sozusagen zu Boden zu trampeln, scheint mir im menschlichen Verhalten fest verankert zu sein. Der Homo sapiens mag Hierarchien. Wenn jemand in der Hackordnung ganz unten angelangt ist, bedeutet das eine Art Lebensversicherung für einen anderen, nicht selbst in dieser furchtbaren Situation zu landen und als Sündenbock für alles und jeden herhalten zu müssen.]

Das Internet macht es heute ausgesprochen leicht, wie aus dem Nebel heraus und unerkannt Angriffe gegen einzelne Personen zu unternehmen. Dass es für die Angegriffenen und Ausgegrenzten dabei buchstäblich ab einem bestimmten Punkt um Fragen von Leben und Tod geht, also einen echten Kampf ums Überleben, macht Lillian Rose Grey in ihrem Roman unmissverständlich klar. Sie stellt vollkommen richtig dar: Mobbing-Opfer sind für ihr Leben durch ihre traumatischen Erfahrungen geprägt und gezeichnet. Die Autorin kommt aber in ihrer Erzählung auch zu dem beruhigenden Schluss, dass es dabei nicht bleiben muss.

Jeder, der diesen Roman bei einigermaßen klarem Verstand liest, sollte danach nie wieder in der Lage sein, Mobbing auch nur tatenlos zuzusehen, geschweige denn jemanden aktiv auszugrenzen und anzugreifen. Wenn auf diese Weise ein Bewusstsein für die Gefährlichkeit des Mobbings geschärft wird, erreicht der Roman ein sehr wichtiges Ziel!

Wie der Roman auf mich wirkt

Meine Schulzeit und mein Studium sind zwar furchtbar lange her, aber ich erinnere mich noch sehr gut daran, was in Sachen Mobbing damals geschah, ohne dass entsprechende Verhaltensweisen schon diesen Namen getragen hätten. Von daher habe ich den Roman mit großem Interesse gelesen. Er war für mich spannend, mitreißend.

Die Art und Weise, wie die Autorin ihre Figuren entwickelt, geschickt mit den Rollen von Täter und Opfer und den darin aufblitzenden verschiedenen Facetten spielt, imponiert mir!

Nicht immer ist wirklich wahrscheinlich, was im Verlauf der Story geschieht, aber ich lese ja keine Romane, um mich mit Wahrscheinlichkeitsrechnung auseinanderzusetzen.

Jedenfalls habe ich mit den Protagonisten Marissa und Jakob die Höhen und Tiefen ihrer Täter-Opfer-Liebes-Beziehung durchlitten. Die Autorin versteht es ausgezeichnet, durch unerwartete Wendungen das Interesse beim Lesen immer wieder neu zu wecken; so gesellt sich die Empathie praktisch automatisch zur Neugier. Ergo: Das Buch nur beginnen, wenn man auch Zeit hat, es zügig zu Ende zu lesen!

Achtung Spoiler!

Im Prinzip verrät ja schon der Titel, dass die Geschichte von Marissa und Jakob auf ein Happy End hinausläuft. Auch das ist intelligent und gut erzählt! Sogar die Darstellung, wie Marissa ihre erste Beziehung beendet, fällt glaubhaft und nachvollziehbar aus - ohne dass dadurch die Hauptfigur unsympathisch würde. Das hinzubekommen, ist gar nicht so einfach!

Die wichtige Frage, wie das sprichwörtliche "Vergeben und Vergessen" zu einander stehen müssen, damit sich etwas anderes entwickeln kann als eine Art "Räuber-Beute-Beziehung" zwischen Täter und Opfer wird [meinem Empfinden nach] klug und zufriedenstellend beantwortet. So kommt der Roman zu einem buchstäblich guten Ende, nämlich einem, das mich als Leserin zufriedenstellt sowie um die ein oder andere Einsicht klüger macht. Gute Unterhaltung mit Schuss, sozusagen.

Sprachlich etwas Spielraum nach oben

Abschnittweise ist der Roman sehr gut erzählt, aber manchmal verliert sich die Autorin leider in der übermäßigen Benutzung der Vokabel "war" - das geht besser; hier hätte ein kritischeres Lektorat helfen sollen. Die Verwendung starker Verben könnten dem Werk noch mehr Tiefe verleihen - und die hätte es angesichts der gelungenen Auseinandersetzung mit einem Thema, das uns alle angeht, verdient.

Fazit

Ich gebe dem ungewöhnlichen und gelungenen Roman mit Botschaft samt seiner mitreißenden Story gerne fünf Sterne: ✪✪✪✪✪.