Rezension

Wie die Frauen die Berge eroberten

Lottes Träume - Beate Maly

Lottes Träume
von Beate Maly

Bewertet mit 5 Sternen

Ein fesselnder historischer Roman für alle, die den Bergsport lieben.

„A Hosn für Frauen?“ Otto Pospischils Stimme überschlug sich vor Entsetzen. Er musste husten, bevor er weitersprechen konnte. „Des is ja grad so, als wollten die Frauen sich gegen die natürliche Ordnung auflehnen.“ (Lottes Träume, S. 199)

Wien am Beginn des 20. Jahrhunderts. Die junge Lotte fährt nach dem Tod ihres Vaters aus dem beschaulichen Dörfchen Mürzzuschlag nach Wien. Mittellos, allein, nur mit einer Adresse. Sie hat Glück und bekommt eine Anstellung als Verkäuferin in einem Sportgeschäft. Das Besondere daran: Eine Frau ist Inhaberin des Ladens und sie hat revolutionäre Ideen – den Bergsport für Frauen zugänglich zu machen. Ein Affront in der damaligen Gesellschaft. Für Lotte sind diese Ideen gar nicht so spektakulär, denn sie ist daheim schon oft auf Ski gestanden und hat mit ihrem Vater so manchen Gipfel gestürmt. So mausert sich Lotte zur Expertin für das neue und etwas verwegene Thema und bekommt einen Einblick in die Wiener Gesellschaft der industriellen Revolution und des aufkeimenden Judenhasses.

Lotte ist ein rundum sympathischer Charakter, in den ich mich schon im ersten Viertel des Buches verliebt habe. Sie ist bodenständig und praktisch veranlagt. Viele Dinge, denen sie in Wien begegnet, sind ihr fremd und staunend entdecke ich als Leserin die Wunder der Stadt und die vielen technischen Neuerungen (Rolltreppen zum Beispiel) gemeinsam mit Lotte. Einerseits ist sie naiv und unbedarft, andererseits ist sie pragmatisch und gerade heraus. Während ich an einigen Stellen über ihre Naivität, für die sie sicherlich nichts kann und die in der damaligen Zeit normal war, den Kopf schütteln musste, habe ich mich über ihre natürlichen Art, die Welt und die Menschen zu betrachten, gefreut. In ihrer Liebe zu den Bergen habe ich mich wiedergefunden und den Gedanken daran, dass es Frauen so lange verwehrt war, zu wandern oder Ski zu fahren, kaum ertragen. Jakob Sonnstein ist der Mann, der überraschend in Lottes Leben tritt. Der Sohn eines angesehenen Süßwarenfabrikanten, der es vorzog mit der Tradition zu brechen und Arzt wurde. Auch er ist sympathisch. Durch ihn bekommen die Leser*innen Einblicke in die medizinische Situation der Zeit. Harte Fabrikarbeit und Unterernährung raffen die ärmere Bevölkerung dahin. Jakob ist idealistisch. Er möchte die Situation für die Patienten verbessern und rennt damit auch gegen Mauern. Außerdem ist seine Familie jüdisch und von Beginn an spürt man, dass die Situation bedrohlicher wird. Auch die Nebencharaktere sind allesamt gut und interessant gestaltet. Lottes Kolleginnen im Laden, die ihr nicht alle gut gesonnen sind, Mizzi Kauba, die Chefin, die zwar revolutionäre und feministische Ideen vertritt, aber eine strenge und mitunter ungerechte Chefin ist, Fritz, der Straßenjunge, der sich durchs Leben schlägt oder Florentine Personne, die Tante von Mizzi Kauba, die in Künstlerkreisen verkehrt und sehr liberal ist.

Beate Maly schafft es, die Gegensätze der damaligen Gesellschaft plastisch herauszuarbeiten. Der Kontrast aus Aufbruchsstimmung und den neuen Möglichkeiten einerseits sowie der Armut, den ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen und der alten Konventionen andererseits ist spannend und hat mich immer wieder mitgerissen. Der Spannungsbogen wird aufrechterhalten. Nicht zuletzt liegt das auch an den wunderbaren Charakteren, denen ich gerne wieder begegnen würde.

Der Roman ist aus Sicht einer dritten Person geschrieben, sodass viele Szenen wie im Fernsehen vor mir als Leserin abgelaufen sind und ich mir ein gutes (Gesamt)Bild machen konnte.

Das Thema „Bergsport für Frauen“ hat mich rundum begeistert. Ich bin selbst passionierte Wanderin und liebe Natursport. Multifunktionshosen und eng geschnittene Sportkleidung sind völlig normal und ich habe mir noch nie Gedanken darüber gemacht, wie sehr Frauen dafür kämpfen mussten.

Daher ist dieses eines meiner Lieblingszitate: „Ich will nicht die Welt verändern. Aber ich werde verhindern, dass die Berge ausschließlich den Männern vorbehalten sind. Wir Frauen haben das gleiche Recht darauf, sie zu erforschen und zu bezwingen. Die Bergwelten sind das Wundervollste, was dieses Land zu bieten hat, und ich werde nicht zulassen, dass wir Frauen davon ausgeschlossen bleiben.“ (Lottes Träume, Seite 200)

Fazit: ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️

LOTTES TRÄUME hat für mich alles, was ein unterhaltsamer historischer Roman aufweisen sollte – er vermittelt ein gut recherchiertes Bild der damaligen Gesellschaft, er spielt mit unterschiedlichen Charakteren, er hat Stellen zum Schmunzeln und zum Weinen, die Liebe kommt auch nicht zu kurz und er nimmt mich mit auf eine Zeitreise. Ein phantastischer Auftakt - ich freue mich, dass weitere Bände folgen sollen.

Ein herzliches Dankeschön an die Verlagsgruppe Random House für das Rezensionsexemplar.