Rezension

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Wie man die Welt mit anderen Augen sehen kann

Endgültig - Andreas Pflüger

Endgültig
von Andreas Pflüger

Bewertet mit 5 Sternen

Zum Inhalt:

Jenny Aaron ist Mitte dreißig und Mitglied einer Elite-Einheit der Polizei in Berlin. Alles in ihrem Leben scheint perfekt, bis sie bei einem misslungenen Einsatz in Barcelona einen Kopfschuss erleidet, der zu ihrer Erblindung führt. Sie kehrt der „Abteilung“, ihrer großen Liebe Niko und ihrem besten Freund Pavlik den Rücken und beginnt ein zweites Leben als Verhörspezialistin und Fallanalytikerin beim BKA. Da durch ihre Blindheit ihre anderen Sinne geschärft sind, ist sie in der Lage, zwischen den Worten zu „lesen“ und verborgene Dinge zu spüren.
Doch dann passiert in einem Gefängnis in Berlin ein Mord, und der Mörder will nur mit einer einzigen Person reden: Jenny Aaron. Ihr ehemaligen Kollegen bitten sie um Hilfe, doch niemand ahnt, was für eine Spirale da losgetreten worden ist, in deren Sog Jenny und die ganze Abteilung zu ertrinken drohen.Der Mord war nur der Anfang zu einem perfiden Spiel, in dem jemand im Hintergrund die Strippen zieht, der mit Aarons Trauma und ihren Ängsten spielt. Jemand, der ganz genau weiß, was damals in Barcelona passiert ist...

Meine Meinung:

Die Story fängt direkt spannend an mit den Ereignissen in Barcelona, und der Leser erfährt, wie es überhaupt dazu kam. dass die Protagonistin erblindet ist. Das wird aus der Sicht von Jenny Aaron beschrieben, so dass man dabei schon ziemlich tief in ihr Seelenleben eintauchen kann. Der Leser baut somit relativ schnell eine Bindung zu ihr auf. Unwillkürlich habe ich mich gefragt, wie ich selbst mit so einem Schicksal umgehen würde. Ich bewundere ihren Mut und ihren unbedingten Willen, alles zu lernen, um mit dieser Situation so gut wie möglich klar zu kommen.
Sie hat sich Eigenschaften erworben, mit denen sie ihre Umgebung ziemlich genau wahrnehmen kann. Dazu gehört z.B. auch die Fähigkeit, durch Schnalzen (Klicksonar) Gegenstände, Formen und Entfernungen zu erkennen. Dadurch ist sie in der Lage, ein relativ selbständiges Leben zu führen. Auch ihren für sie sehr wichtigen Kampfsport kann sie so weiterhin ausüben und ihr Leben nach den Grundsätzen des „Bushido“, dem ungeschriebenen Verhaltenskodex der Samurai, ausrichten. Ich fand es sehr interessant, etwas über diese Dinge zu erfahren, die mir so nicht geläufig waren. Der Autor hat es sehr gut verstanden, dem Leser die Technik des Klicksonars und die Regeln des Bushido näher zu bringen, ohne dabei oberlehrerhaft oder langweilig zu wirken. Zudem zeigt es, dass der Autor sehr gut und sorgfältig recherchiert hat.

Etwas gewöhnungsbedürftig fand ich die Tatsache, dass die Protagonistin immer nur beim Nachnamen genannt wird. Wenn es jetzt "Schmidt" oder "Schulze" gewesen wäre, okay. Aber ich assoziiere mit "Aaron" einfach eine männliche Figur, und es hat schon etwas gedauert, bis ich mich daran gewöhnt habe, dass es ja um eine Frau geht. Aber ich vermute einfach mal, dass der Autor das ganz bewusst gemacht hat, obwohl ich nicht genau einordnen kann, warum. Will er damit die Stärke der Protagonistin unterstreichen? Oder hat es etwa einen religiösen Hintergrund mit Bezug zur Bibel? Lt. Wikipedia bedeutet der Name Aaron nämlich "Held" oder "großer Kämpfer". Das würde sehr gut passen, zumal der Autor ihr doch bisweilen so ein wenig den „Superheldennimbus“ verpasst, indem er ihr Fähigkeiten zuschreibt, die ich teilweise doch etwas übertrieben finde. So kommen dann ein paar Szenen vielleicht doch etwas unglaubwürdig daher, was für mich den Lesegenuss jetzt aber nicht entscheidend schmälert.

Der Autor arbeitet auch sehr oft mit Rückblicken, mit denen ich mich anfangs auch etwas schwer getan habe. Für mich wäre es hilfreich gewesen, wenn der Autor dem Kapitel oder Abschnitt eine Zeitangabe vorangestellt hätte. Außerdem werden sehr oft Aarons Gedanken wiedergegeben, ohne dass man auf Anhieb erkennt, dass das jetzt nicht die Realität ist. Aber das zwingt halt zu sehr konzentriertem Lesen und manchmal auch zum Zurückblättern. Schmälert aber für mich jetzt nicht entscheidend den Lesegenuss; es verlangsamt halt alles ein wenig, intensiviert aber gleichzeitig das Leseerlebnis. Vielleicht ist dies aber auch die Intention des Autors?

Ansonsten hat der Autor einen sehr angenehmen und lebendigen Schreibstil und versteht es vortrefflich, den Spannungsbogen das ganze Buch über hochzuhalten. Und er erschafft sehr starke Charaktere. Da ist nicht nur Jenny Aaron; nein, auch ihr Gegenspieler Holm ist ein sehr gut gezeichneter, abgrundtief böser Mensch. Zu meinem Lieblingscharakter aber hat sich im Verlauf des Buches Pavlik entwickelt, der beste Freund und Kollege von Aaron. Das ist ein Mensch, den man sich in jeder Lebenslage an seiner Seite wünscht, fast schon zu gut für diese Welt. Und komischerweise habe ich um ihn die meiste Zeit mehr Angst gehabt als um Aaron. Das mag daran liegen, dass sie doch immer etwas kühl und distanziert wirkt, im Gegensatz zu Pavlik, der doch wesentlich gefühlvoller rüberkommt.

Ich habe in diesem Buch auch Lieblingsstellen ausgemacht, und zwar sind es die, in denen es um die "zehn Dinge" geht, die Aaron gerne anfasst oder gerne riecht usw. usw. Dadurch lernt man die Protagonistin noch besser kennen. Und ich ertappe mich dabei, dass ich eigene Listen erstelle und sie mit ihren vergleiche. Es gibt sogar einige Übereinstimmungen; auf der anderen Seiten kann ich manche benannten Dinge überhaupt nicht nachvollziehen. Aber ich finde das eine sehr gute Idee vom Autor.
Gut gefallen hat mir auch das Nachwort, in dem der Autor zum einen Material über herausragende blinde Persönlichkeiten empfiehlt und zum anderen kundtut, dass der Leser auf ein weiteres Buch mit Jenny Aaron in der Hauptrolle rechnen darf. Das würde mich doch sehr erfreuen.

Nun zum Cover: Es ist genial. Ich habe erst, als ich das Buch in Händen hielt, festgestellt, dass es sich bei den gelben Punkten um das Wort „Endgültig“ in Braille-Schrift handelt. Das passt natürlich perfekt zur Protagonistin. Und der gelbe Buchschnitt ist der Clou dazu. Außerdem bleiben diese Punkte klar umrissen, während das Schriftbild des Wortes „Endgültig“ doch verwischt wirkt. Das könnte die Bedeutung haben, dass Blinde manchmal doch besser “sehen“ können als nicht sehbehinderte Menschen. Da hat der Verlag (oder der Autor?) sich mal echt was einfallen lassen. Da gibt es von mir volle Punktzahl.

Fazit:
Das ist schon ein außergewöhnliches Buch. Ich finde es sehr mutig vom Autor, einen Thriller aus der Sicht einer blinden Hauptfigur zu schreiben. Man fragt sich unwillkürlich, ob das funktionieren kann. Aber das tut es, ziemlich prächtig sogar.

Um es mal in Aarons Art zusammenzufassen:

zehn Dinge, die ich an diesem Buch mag:

- die Tatsache, dass die Protagonistin blind ist
- das Cover
- die Stellen mit den 10 Dingen
- Pavlik
- den Schreibstil des Autors
- die gute Recherche des Autors
- die gut ausgedachte Geschichte mit so vielen überraschenden Wendungen und einer plausiblen Auflösung
- die Einblicke in den „Bushido“
- das Nachwort
- die Aussicht auf eine Fortsetzung

zehn Dinge, die ich an diesem Buch nicht mag:

- die m.E. manchmal etwas übertriebenen Superkräfte der Protagonistin
- ?????? Mehr wollen mir einfach nicht einfallen.

Deswegen kann es für dieses Buch nur 5 Sterne und eine absolute Leseempfehlung geben.