Rezension

Wie Vögel, die aus dem Nest gefallen sind

Gleitflug - Anne-Gine Goemans

Gleitflug
von Anne-Gine Goemans

Bewertet mit 5 Sternen

Gieles hat zwei Idole - Sully, Flugkapitän Chesley B. Sullenberger, der seine Maschine elegant auf dem Hudson landete, nachdem ihm Gänse ins Triebwerk geflogen waren, und den französischen Ornithologen Christian Moullec, der Zugvögel so auf sich prägte, dass sie seinem Ultraleichtflugzeug folgten. Der Brief an den Franzosen, an dem Gieles gerade feilt, zieht sich in einzelnen Absätzen hin; denn Gieles Französisch holpert noch etwas. Gieles eigene Leidenschaft für Gänse ist nicht ungefährlich. Gieles Vater hat als Flughafenförster dafür zu sorgen, dass Vögel vom Flughafengelände fernbleiben. Ein Sohn, der Gänse mit Spekulatius abrichtet, passt da gar nicht. Ein Pubertierender, dessen jüngste Gans nur direkt neben seinem Kopfkissen einschlafen kann, und ein stimmungsvolles Buchcover könnten einen leichten, gefühlvollen Roman vermuten lassen. Doch Gieles Leben, das er mit seinem wortkargen Vater und dessen körperbehinderten Bruder Fred teilt, ist alles andere als leicht. Es sind fast schon zu viele Probleme, mit denen der Junge konfrontiert wird. Nachbarin Dolly, deren Haus einer Erweiterung des Flughafens zum Opfer fallen soll, kann es sich nicht leisten, fortzuziehen. Ihre drei Söhne sehen in Gieles, der auf sie aufpasst während Dolly zu ihrem Zweitjob hetzt, einen Vaterersatz. Sie hängen so stark an ihrem Kindersitter, dass man sich gut vorstellen kann, wie sehr sie ihren verstorbenen Vater vermissen. Der grotesk übergewichtige "Super" Waling hat eine Erzählung über seine Vorfahren geschrieben, die beim Trockenlegen des Polders, auf dem heute das Flughafengelände liegt, wie Ochsen ausgebeutet wurden. In Einzelkapiteln bekommt Gieles die Geschichte nach und nach von "Super" vermittelt. Außer Gieles hat offenbar noch niemand überlegt, wie aus dem charismatischen Lehrer Waling dieser Mitleid erregende Mann werden konnte, der sich nur noch wie ein Behinderter per Elektrokarren bewegen kann. Meike, Gieles Internet-Bekanntschaft und erste große Liebe, bringt einen ganzen Packen Probleme mit und findet unerwartet eine Unterstützerin in Dolly. Warum seine Mutter seit Jahren als Entwicklungshelferin in Afrika Solarkocher verteilt, anstatt bei ihrer Familie in den Niederlanden zu sein - diese wichtigste Frage überhaupt - verdrängte Gieles bisher erfolgreich. Doch mit den Hormonen, die die Leitung über seinen Körper übernommen haben, und neben Gieles ehrgeizigem Projekt, seiner jüngsten Gans das Tischtennisspielen beizubringen, steuern die Ereignisse auf ein rasantes Ende zu.

Anne-Gine Goemans hat ein Händchen für skurrile Charaktere, die alle wie aus dem Nest gefallene Vögel wirken. Gieles war mein unangefochtener Favorit, obwohl man Goemans Figuren in ihrer Schrulligkeit alle mögen muss. Die Art, in der in "Gleitflug" jede Nebenfigur liebevoll ausgearbeitet und mit der Last eines speziellen Geheimnisses beladen war, hat mich ebenso gefesselt wie Goemans Erzählkunst, mit der sie Gegenwart, Vergangenheit und Gieles Träume (die er seinem Brief anvertraut) miteinander verknüpft. Schließlich punktet die deutsche Übersetzung des Texts mit einer treffenden Sprache, die zu Gieles passt wie der Punkt auf das i.