Rezension

Wo ist Jacy?

Jenseits der Erwartungen
von Richard Russo

Bewertet mit 4 Sternen

Was geschah damals vor 40 Jahren wirkllich - und wer sind die drei Freunde eigentlich, die sich nun wiedertreffen? Spannend und tiefgründig.

An einem Spätsommertag auf Martha’s Vineyard treffen sie sich wieder: Lincoln, Teddy und Mickey. Die drei Männer planen, das Wochenende in einem Ferienhaus auf der Insel zu verbringen – um der alten Zeiten willen. Seit dem Studium während der Vietnamkriegsjahre sind sie miteinander befreundet. Sie sind sehr unterschiedliche Wege gegangen, doch alle waren sie einst in dasselbe Mädchen verliebt, Jacy Calloway. Kurz nach ihrem Abschluss verschwand Jacy spurlos. Aber keiner von ihnen hat die Freundin vergessen – oder die Frage, wen von ihnen Jacy eigentlich geliebt hat. Schließlich beginnt Lincoln, sich erneut mit den Umständen ihres rätselhaften Verschwindens zu beschäftigen. Was ist damals wirklich passiert? (Klappentext)

Als 60Jährige treffen sich die alten Freunde Lincoln, Teddy und Mickey für ein Sommerwochenende im Ferienhaus von Lincolns Familie wieder. Sie wollen die alten Zeiten wieder aufleben lassen, als sie während ihres Studiums beste Freunde waren. Sie hatten nach ihrem Studienende 1971 bereits ein Wochenende gemeinsam in diesem Ferienhaus verbracht, damals noch mit ihrer Freundin Jacy, kurz bevor sich ihrer aller Wege trennen würden, und auch kurz bevor Mickey, dem das Losglück nicht hold gewesen war, als Soldat in den Vietnamkrieg ziehen sollte. Doch Jacy verschwand nach ihrem gemeinsamen Wochenende spurlos, und ihr Verbleib konnte bis heute nicht geklärt werden.

Auch wenn Jacy am Wochenende ihres Wiedertreffens nicht persönlich anwesend ist, scheinen doch alle ihre Präsenz zu spüren. Erinnerungen kommen hoch, ebenso wie Fragen - und vor allem Lincoln beginnt nun ernsthafter nachzuforschen in dem kleinen Ort. So stößt er auf einen pensionierten Cop, der durch seine Gedankengänge den Keim des Zweifels sät in Lincoln. Sind seine Freunde wirklich das, was er immer von ihnen dachte? Oder lauert da womöglich etwas Finsteres in einem von ihnen? Schließlich waren alle drei seinerzeit heimlich verliebt in Jacy. Diese Fragen und neuen Erkenntnisse hinsichtlich von Jacys Verbleib bringen eine unterschwellige Spannung in die ansonsten ruhige Erzählung,

Erzählt wird die Geschichte abwechselnd aus der Perspektive von Teddy und Lincoln. Mickey kommt selbst nur einmal zu Wort, und zwar erst gegen Ende des Romans. Wechselnd in Gegenwart und Vergangenheit, entwickelt sich ein zunehmender Einblick in das Leben der drei Freunde, in ihre Kindheit und Jugend ebenso wie in ihre Entwicklung nach dem Studium bis zu ihrem heutigen Dasein. Dadurch lernt man sie zunehmend kennen - und mögen: den vernünftigen Lincoln mit seiner großen Familie, den eher kauzigen Teddy, den ich zuletzt am liebsten mochte, und den eher raubeinigen Mickey, der bis heute mit seiner Rockband durch die Gegend tourt und seinem Motorrad die Treue hält.

Russo stellt keine strahlenden Helden in den Mittelpunkt seines Romans, sondern ganz normale Menschen, die sich nach dem ein oder anderen Schicksalsschlag mit ihrem Leben arrangiert haben. Das Verhältnis zu den Eltern spielt dabei eine wichtige Rolle, ebenso wie der eigene Charakter, den man einfach nicht abstreifen kann, dann aber mit den Folgen zu leben hat. Das Wochenende bietet einige neue Erkenntnisse für jeden einzelnen von ihnen - Erkenntnisse über sich selbst, über die Freunde, und ja, auch über das Schicksal von Jacy. Die Auflösung dieses Rätsels hatte ich ein wenig erahnt, jedoch nicht in diesem Ausmaß. Insofern auch für mich überraschend. Und keiner der drei Freunde wird nach diesem Wochenende das Ferienhaus unverändert verlassen...

Mir hat die ruhige, stellenweise leise melancholische Geschichte wirklich gut gefallen. Ich bin allen Erzählsträngen gerne gefolgt und habe der Stimme des Hörbuchsprechers (ungekürzte Ausgabe: 12 Stunden und 8 Minuten) fasziniert gelauscht. Stefan Kaminski hat allen wesentlichen Figuren eine eigene Stimme verliehen, so dass ich tatsächlich verschiedene Gesichter vor mir zu sehen meinte. Das empfand ich als sehr gelungen.

Alles in allem ein Roman, der Lust macht auf weitere Werke von Richard Russo. Ich werde berichten...

 

© Parden