Rezension

Zerstörte Kindheit

Vaterland, wo bist du? - Annette Oppenlander

Vaterland, wo bist du?
von Annette Oppenlander

Bewertet mit 5 Sternen

„...Das Leben bestand aus Regeln: Hände waschen vor dem Essen, immer ein sauberes Taschentuch mit sich tragen, und immer, immer ordentlich aussehen, wenn man das Haus verließ...“

 

Wir schreiben das Jahr 1940, als das Leben der 7jährigen Lilly in Solingen einen ersten Einschnitt erfährt. Ihr Vater zieht in den Krieg, obwohl er bisher als unabkömmlich galt. Es wird viele Jahre dauern, bis Lilly erkennt, dass er sich freiwillig gemeldet hat.

Günter ist 11 Jahre. Er freut sich auf seine erste Stunde bei der Hitlerjugend. Doch schnell muss er begreifen, dass es nur um Drill und Gehorsam geht. Auch sein Vater wird 1940 eingezogen.

Die Autorin erzählt in bewegenden Worten ein Stück ihrer Familiengeschichte. Ich darf Günter und Lilly während der Kriegsjahre und der ersten Nachkriegsjahre begleiten. Das Besondere an dem Buch besteht darin, dass das Geschehen aus dem Blickwinkel zweier Kinder betrachtet wird. Abwechselnd kommen Günter und Lilly zu Wort.

Der Schriftstil lässt sich gut lesen. Er sorgt für eine permanente innere Spannung. Die ergibt sich zum einen aus dem Zeitgeschehen, wo jede Tag der letzte sein konnte, zum anderen aus den komplexen Beziehungen der Protagonisten. Bei letzteren gibt es wesentliche Unterschiede.

Lilly ist fast auf sich allein gestellt. Ihre Mutter hat nur Augen und Zeit für den jüngeren Bruder. Außerdem reißt sie der Krieg aus ihrem gesicherten Leben. Nahrungsmittel werden knapp, Kontakte außerhalb der Familie minimiert. Das ist die Mutter nicht gewohnt. Bisher hatte sie ein sorgenfreies bürgerliches Leben. Hinzu kommt, dass Karl Huss, der neue Mitbewohner des Hauses, mehr als loyal zum Regime steht. Das aber hindert ihn nicht daran, gegenüber Lilly übergriffig zu werden, sodass sie ihm tunlichst aus dem Weg geht.

Günter wächst in der Geborgenheit einer liebenden Familie auf. Doch nachdem auch sein älterer Bruder Hans eingezogen wird, muss er Verantwortung übernehmen. Das meistert er zusammen mit seinem Freund Helmut.

Wie die Bombenangriffe vor allem Günter zusetzen, zeigt das folgende Zitat:

 

„...Aber nein, ich weigerte mich, Angst zu haben. Wenigstens diese eine Mal wollte ich mein Leben nicht von den Sirenen diktieren lassen...“

 

Deutlich wird, wie der Krieg den jungen Leuten die Kindheit und die Jugend raubt. Sie sehen und hören Dinge, die sie nur schwer verkraften können. Gleichzeitig lebt in ihren Herzen die Angst um die eingezogenen Väter und Brüder. Bei Lilly kommt noch das kalte Verhalten der Mutter hinzu. Sie kann tun , was sie will. Sie bekommt nicht eine Spur von Liebe und Anerkennung. Nur Herr Baum, ein Bewohner des Hauses, ist für Lilly ein Lichtblick. An ihn wendet sie sich auch, als sie eine lebensgefährliche Entscheidung fällt.

Auch Günter und Helmut suchen einen Weg, der Mobilmachung zu entfliehen und zu überleben. Das bringt ihre Freundschaft einerseits an Grenzen, schweißt sie aber anderseits zusammen. Gleichzeitig erfahren sie in der härtesten Zeit ihres Lebens Mitgefühl und Hilfsbereitschaft. Viel Raum lässt die Autorin gerade in diesen Szenen der Emotionen der beiden, die von Zerrissenheit und Beklemmung zeugen.

Fast philosophisch erkennen sie:

 

„...Glück ist nichts als ein vergängliches Gefühl. Wie ein heißer Windstoß in einem kalten Raum neigt es dazu, sich zu verflüchtigen...“

 

Bitter klingen Hans` Worte, der seelisch gebrochen aus der britischen Gefangenschaft zurückkehrt:

 

„...Die Regierung wusste, dass wir verloren waren, und schickte uns trotzdem in den Krieg...“

 

Auch die ersten Nachkriegsjahre sind nicht einfach. In der britischen Besatzungszone ist es ein nackter Kampf ums Überleben. Jeder geht anders damit um. Man spürt den Hunger nach den verpassten Jahren und Gelegenheiten. Gleichzeitig müssen seelische Wunden heilen. Manche setzen dazu auf Betäubung, sei es mit Alkohol oder ausufernden Partys.

Und es beginnt das Warten., das Warten darauf, wer wie zurückkehren wird.

Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Die Autorin hat ein beeindruckendes Zeitgemälde kreiert. Die Geschichte ist auch ein Plädoyer gegen jegliche Art von Krieg, denn es zeigt dessen zerstörende Kraft auf die Kämpfenden und die Daheimgebliebenen. Es belegt, dass sich die so verlorenen Jahre nie zurückholen lassen.