Buch

Nachtlilien - Siri Lindberg

Nachtlilien

von Siri Lindberg

I. Teil Schwarze Spiegel   Stein und SilberDer Tag, an dem Jerushas Leben zersplitterte, begann strahlend.Ihre Statue der Göttin Shimounah war fertig. Endlich, nach fast einem Jahreslauf; noch nie hatte sie so lange an einer Skulptur gearbeitet. Mit kritischem Blick ging Jerusha noch einmal um die Frauengestalt herum, die um eine Haupteslänge größer war als sie selbst, und betrachtete sie im klaren, scharfen Licht der Morgensonne. In den letzten Wochen hatte sie jeden Fingerbreit mit immer feineren Bimssteinen geschliffen und anschließend poliert, bis der Marmor diesen ganz besonderen samtigen Schimmer hatte. Eigentlich kenne ich diese Skulptur besser als meinen eigenen Körper. Jerusha lächelte schief über den seltsamen Gedanken.Eine Stelle an Shimounahs Unterarm war noch ein wenig zu rau. Jerusha nahm sich einen handgroßen, in Leder eingenähten Kieselstein, tauchte ihn in einen Eimer mit Wasser und polierte die Stelle noch einmal, bis die Sonne hoch am Himmel stand. Schließlich fühlte sich auch der steinerne Arm seidenweich an, als sie mit den Fingerkuppen darüber strich. Fast wie die Haut eines Menschen.Ein tiefes Glücksgefühl durchströmte Jerusha. Sie richtete sich auf, streckte die schmerzenden Schultern und goss das Schleifwasser schwungvoll ins Gebüsch. Erst jetzt nahm sie die Geräusche der Tempelbaustelle wieder wahr: rechts von ihr, wo die anderen Bildhauer arbeiteten, der helle Klang von Eisen auf Stein, das Prasseln und Klicken davonspritzender Steinsplitter. Etwas weiter weg wuchtige Schläge, mit denen die Steinmetze Keile in einen Marmorblock trieben, um ihn zu spalten. Der jaulende Gesang einer Seilwinde, mit der eine fertige Skulptur zur Fassade hochgehievt wurde. Darunter mischte sich lautstarkes Fluchen – Goram TeRulius nannte Alef, einen seiner Lehrlinge, einen dreimal verwünschten Hundskopf. Es war einer seiner milderen Ausdrücke.Und jetzt musste sie sich seinem Urteil stellen. TeRulius war der Erste Baumeister des Tempels, sein Wort galt. Jede einzelne Skulptur, jedes Relief musste von ihm begutachtet und für gut befunden werden.Langsam setzte sich Jerusha in Bewegung. Goram TeRulius arbeitete gemeinsam mit seinem Lehrling und zwei Steinmetzen an einem der beiden lebensgroßen Greifen aus Sandstein, die den Eingang des Ghaliltempels bewachen sollten. Den Adlerkopf des Wesens hatte TeRulius schon fein herausgearbeitet, doch die Umrisse des hinteren Körpers und der Flügel waren erst grob zu erkennen. Es würde sicher noch bis Mittherbst dauern, bis der Greif vollendet war.Jerushas Lederschuhe knirschten auf den Steinsplittern, die um die Figur verstreut lagen. Hier hätte Alef längst einmal fegen müssen. Sie stellte sich neben den Greifen und wartete, bis der Baumeister sie bemerkte und seine Arbeit unterbrach, um sich ihr zuzuwenden. Dann zwang sie sich, mit fester Stimme zu sprechen. »Goram, ich bin fertig.«»So?«, knurrte Goram und legte Eisen und Fäustelhammer aus der Hand. Es war ein heißer Tag, sein Haar und sein Bart waren dunkel von Schweiß und Steinstaub. »Hat ja auch lange genug gedauert! In der Zeit, die du an dieser Shi herumgehämmert hast, hätte Zigg einen ganzen Altar herausmeißeln können.«»Hat er aber nicht«, brüllte Zigg, der rothaarige Vorarbeiter, aus fünf Menschenlängen Höhe vom Tempelgerüst herunter. Er spuckte einen gut durchgekauten Klumpen Aertiskraut hinunter in den Staub. »Lass die Kleine in Ruhe, Goram. Zumindest, bis du selbst gesehen hast, was bei ihrem Gehämmer rausgekommen ist.«Jerusha verschränkte die Arme und verkniff sich einen bissigen Kommentar. Zigg war ein netter Kerl und meinte es gut, aber sie hasste es, wenn irgendjemand sich berufen fühlte, sie in Schutz zu nehmen. Und wenn er etwas von diesem widerlichen Zeug auch nur in die Nähe meiner Statue spuckt, dann ziehe ich ihm einen Spitzmeißel über den Schädel!Es sprach sich schnell herum, dass Jerusha fertig war. Kurz darauf versammelten sich alle fünfzig Bildhauer und Steinmetze, die am Tempel mitarbeiteten, um Jerushas Statue. Jerusha versuchte eine gleichgültige Miene aufzusetzen, doch ihre Knie fühlten sich so weich an, dass sie sie kaum noch trugen. Ihre Shimounah war ein Experiment. Es war üblich, die Tochter des Mondes in prächtigen Gewändern darzustellen, geheimnisvoll und schön. Doch Jerusha hatte sich dafür entschieden, sie nach ihrer Verbannung aus dem Götterhimmel zu zeigen, gebeugt, in den Kleidern einer Magd. Alles hatte Shimounah verloren, den Mann, den sie liebte, ihr Kind, ihren Stolz. Und nun las sie die Nachricht, dass ihre Verbannung aufgehoben war; das war genau der Moment, den Jerusha hatte einfangen wollen. Ein kleiner Drache – der Bote, der ihr die Nachricht überbracht hatte – wand sich vorwitzig um die Beine der Göttin.Schweigend betrachteten die Männer die schimmernde weiße Statue. Wieso sagte niemand ein Wort? Jerusha konnte den Ausdruck auf ihren Gesichtern nicht deuten. Es war so still, dass sie das Pfeifen einer Rotamsel in den Bäumen hören konnte und das leise Flappen eines Sonnensegels, das über der offenen Werkstatt gespannt war. Jerushas Knie wurden noch weicher. Sie gefällt ihnen nicht! Vielleicht wird Goram darauf verzichten, sie überhaupt aufstellen zu lassen. Marmor für zehn Silber verdorben. Womöglich muss ich ihm das Geld zurückgeben!In diesem Moment räusperte sich Goram. Seine Stimme klang nüchtern und sachlich. »Nicht allen wird sie gefallen. Aber, Ghalils Schande, dieses Gesicht! Lebendiger geht’s nicht mehr.«»Ja, da kriegt man glatt ’ne Gänsehaut«, meinte Ressec, einer der anderen jungen Bildhauer. Er klang fast schon ehrfürchtig, und jetzt nickten auch die anderen. Als sie Jerusha ansahen, waren ihre Blicke anders, respektvoller als zuvor.Terémio war mit dem Spalten des Marmorblocks fertig. Jetzt kam er breitbeinig heran; seine Gehilfen folgten ihm auf den Fersen wie ein Rudel gehorsamer Hunde. Terémio war Jerushas ehemaliger Lehrherr, und noch immer fühlte es sich seltsam an, dass sie jetzt beide im gleichen Dienst standen und gleichberechtigt Seite an Seite arbeiteten. Andererseits war das kein großer Zufall, denn in der Gegend gab es weit und breit keine andere Arbeit für ihre Zunft. Die wenigen Tempelbaustellen zogen sogar Wanderarbeiter aus den anderen Fürstentümern Ouendas an.Unwillkürlich straffte sich Jerusha, als Terémio auf sie zukam. Es war eine harte Lehrzeit gewesen bei ihm. Er hatte sie jede geplante Figur so lange zeichnen lassen, bis ihre Finger wund und sämtliche Kerzen heruntergebrannt waren. Keinen einzigen falschen Schlag mit dem Meißel, den die Bilderhauer gewöhnlich Eisen nannten, hatte er ihr durchgehen lassen. Der Stein bestraft dich, wenn du leichtsinnig bist. Genauigkeit und Geduld, das wird der Stein dich hoffentlich noch lehren!Ganz langsam schritt Terémio um die Shimounah herum, betrachtete sie aus jedem Winkel. Dann verzog sich sein zerfurchtes Gesicht zu einem Lächeln. »Du hast gefunden, was in diesem Block verborgen war. Die Leute werden von weit her kommen, um es zu sehen. Breas’ Unglück war unser Glück, scheint mir.«Die anderen widersprachen nicht, und Jerusha fühlte, wie ihr Gesicht heiß wurde vor Stolz. Breas war ein erfahrener Bildhauer, der die Figuren von Shimounah und Xatos hätte übernehmen sollen, während für eine junge Meisterin wie Jerusha die Kleinarbeit am Dachfries vorbehalten geblieben wäre. Doch dann war Breas einmal zu oft berauscht zur Arbeit erschienen und vom Gerüst gestürzt.»Hab Breas neulich besucht«, sagte Zigg zu Goram. »Sein Arm ist wieder ganz, hat er gesagt, aber seine linke Hand wirkt ziemlich steif, und er säuft mehr Schlangenmilch, als gut für ihn ist. Lass die Kleine auch den Xatos machen.«»Das würde die Große tatsächlich gerne«, entfuhr es Jerusha. Noch im gleichen Moment bedauerte sie, dass sie den Mund nicht gehalten hatte. Schon der Versuch, jemandem einen Auftrag wegzunehmen, war eine hässliche Sache. Außerdem tat Breas ihr leid. Für die Arbeit am Stein brauchte man in jeder Fingerspitze Gefühl, schon eine leichte Verletzung konnte bedeuten, tagelang zu niederen Arbeiten abkommandiert zu werden. Wenn er tatsächlich eine steife Hand zurückbehielt von seinem Unfall, war seine Laufbahn als Steinmetz vorbei. Wahrscheinlich endete er als Bettler.Goram sagte nichts zu Ziggs Vorschlag, blickte nur nachdenklich drein. Xatos, der stolze Kriegergott, der rastlose Wanderer, war eine schwierige Aufgabe – und im Gegensatz zu Shimounah eine sehr unweibliche. Wahrscheinlich traute Goram ihr nicht wirklich zu, dem Stein auch eine solche Gestalt zu entlocken. Und um ehrlich zu sein, ich bin mir selbst nicht ganz sicher, ob ich es schaffen würde, ging es Jerusha durch den Kopf.Es war ein peinlicher Moment, und Jerusha war froh, als sich jetzt Gorams Lehrling Alef schüchtern zu Wort meldete. »Diese Shi. Mir kommt sie irgendwie bekannt vor«, meinte er.Die anderen lachten und schlugen ihm auf den Rücken. »Soso, vellecht hat Shi doch nok ein paar Liebhaber aus unser Welt gehabt, warst du etwis dabei?«, rief Welkar, ein muskulöser Arbeiter aus Larangva, dessen Akzent Jerusha manchmal kaum verstand.Alef wurde rot bis zu den Haarwurzeln – und Jerusha blickte verlegen zur Seite. Sie hatte viele junge Frauen beobachtet und gezeichnet, als sie die Figur der Shimounah entworfen hatte. Hoffentlich kam niemand darauf, dass sie eine Weberin aus einem der Nachbarorte als Vorbild verwendet hatte.»Aber jetzt mal im Ernst, der Drache ist ein Schwachpunkt«, meldete sich ein älterer Steinmetz, ein Wanderarbeiter aus dem Fürstentum Yantosi, zu Wort. »So ein winziges Vieh, sieht aus wie ein Schoßtier. Das kann man doch nicht ernst nehmen, Mädchen! Drachen sind mächtig und hundertmal größer.«Jerusha zuckte mit den Schultern. »Woher wisst Ihr das? Schon mal einen gesehen?«»Wenn ich schon mal einen gesehen hätte, stünde ich jetzt nicht hier«, sagte der Steinmetz schroff. Er und die anderen Bildhauer gingen zurück an ihre Arbeit, und wenig später klang die Melodie ihres Hämmerns wieder über die Tempelbaustelle.Es war zu spät, um jetzt noch mit der Aufstellung der Shimounah zu beginnen. Morgen war noch genug Zeit, sie auf ihren Sockel zu hieven, der bereits fertiggestellt war und am richtigen Platz vor dem Tempel stand. Nach einem Seitenblick auf Goram entschied Jerusha, zur Feier des Tages heute früher heimzugehen. Sie musste unbedingt ihrem Verlobten Dario davon erzählen, was die anderen über ihre Statue gesagt hatten. Beim Gedanken an Dario wurde ihr Herz ganz leicht. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass er allein sie und ihre Arbeit verstand. Vielleicht, weil er selbst eine alte Kunst beherrschte – und natürlich, weil er sie liebte. Nur noch drei Wochen bis zur Hochzeit, dann gehörten sie für immer zusammen.Ach, das Leben ist schön!»Bis morgen, Winib beschütze euch«, rief Jerusha fröhlich in die Runde, und ein paar Grüße schollen zurück. Sie warf noch einen letzten Blick auf die kantige Silhouette des halb fertigen Tempels. Noch wirkte er wie ein fünfeckiger Felsen aus hellem Sandstein, und die Lichtung um ihn herum war eine staubige Ebene voller Werkstätten und Steinblöcke und Holzgerüste. Dort, wo gerade nicht gearbeitet wurde, wucherte das Unkraut. Doch seit der Tempel sein kupferglänzendes Dach bekommen hatte und die Türme an seinen Außenseiten vollendet waren, ahnte man, was für ein Kleinod mitten im Wald er einmal sein würde.An diesem Tag sah Jerusha ihn für lange Zeit das letzte Mal.

Rezensionen zu diesem Buch

Unsterblich Liebe

Um das Buch schleiche eine ganze Weile. Tja und als es als WB für meine Mutter ins Haus geflattert kam konnte ich einfach nicht wiederstehen und musste es unbedingt lesen.

Ich hoffe es war OK.

Für Jerusha liegen Liebe und Tod nahe beieinander: Denn ein Fluch zwingt sie dazu, jeden zu verraten, in den sie sich verliebt. Doch als sie auf Kiéran trifft, fällt sie die Entscheidung, den Bann zu brechen. Auch wenn es sie das Leben kosten könnte.…Seite Generationen lastet auf der...

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Nachtlilien

Allgemeines zum Buch und dessen Aufbau:
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"Nachtlilien" ist mit seinen 592 Seiten ein herrlich umfangreiches Buch. Dazu kommt, dass die Seiten sehr eng beschrieben sind und die Schrift außerdem sehr klein ist, sodass der Geschichte viel Raum gegeben wird, um sich zu entfalten.

Das Buch gliedert sich in Kapitel und innerhalb der Kapitel in Abschnitte. Überschrieben sind die Kapitel jeweils mit einem kurzen Titel, der ein wenig auf...

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Mein erstes Fantasybuch

Inhalt:
Eine unsterbliche Liebe und ein Fluch, der alles zerstören wird. Für Jerusha liegen Liebe und Tod nahe beieinander: Denn ein Fluch zwingt sie dazu, jeden zu verraten, in den sie sich verliebt. Doch als sie auf Kiéran trifft, fällt sie die Entscheidung, den Bann zu brechen. Auch wenn es sie das Leben kosten könnte …
Seit Generationen lastet auf der Familie der jungen Jerusha ein schrecklicher Fluch: Alle Frauen sind dazu verdammt, den Menschen zu verraten, den sie am...

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Weitere Infos

Art:
eBook
Sprache:
deutsch
Umfang:
592 Seiten
ISBN:
9783492951296
Erschienen:
Oktober 2010
Verlag:
Piper ebooks
8.6
Eigene Bewertung: Keine
Durchschnitt: 4.3 (10 Bewertungen)

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