Rezension

1945 und 1993 *****

Das Mädchen aus Ostpreußen -

Das Mädchen aus Ostpreußen
von Karin Lindberg

1993: Johanna reist kurz vor der Feier zum 75. Geburtstag ihres Großvaters nach Lüneburg. Dass sie ihre Stelle als Krankenschwester gekündigt, ihre kleine Wohnung aufgegeben hat und ihr weniges Hab und Gut im Kofferraum liegt, weiß niemand. Am besten, sie lässt ihr bisheriges, chaotisches Leben hinter sich und bewirbt sich bei Ärzte ohne Grenzen – Hauptsache, weit weg. Als sie dann zufällig auf alte Fotos ihrer Großmutter Netti stößt, wird sie neugierig. Birgt Oma vielleicht gar ein lange gehütetes Geheimnis?

Auf zwei Zeitebenen, anfangs ohne direkten Bezug zueinander, schildert Karin Lindberg zwei bewegende Geschichten: einerseits jene von Johanna, die einen Schnitt sucht in ihrem verkorksten Leben, andererseits die von Netti, welche mit Mutter, Schwägerin und dem neunjährigen Neffen im Winter 1945 über das Haff aus Ostpreußen geflohen ist und auch in Lüneburg nur gegen den Widerwillen der Dorfbewohner eine Unterkunft findet. Den sogenannten Polacken stehen die Einheimischen teils recht feindselig gegenüber, während für die britischen Besatzer ohnehin ein Fraternisierungsverbot gilt.

Mit gewohnt angenehmem Schreibstil lässt die Autorin diese beiden Erzählungen lebendig werden. Schön sind die Erinnerungen an elektrische Schreibmaschinen, Walkmen und Musikkassetten bei Johanna, unter die Haut geht es kurz nach dem Krieg bei Netti. Da wie dort gelingt es Lindberg, beim Leser Empathie für die Hauptfiguren aufzubauen und mit ihnen zu fühlen. Auch wenn Nettis Jugend von vielen Entbehrungen, Hunger und Not geprägt ist, so bewahrt sie sich ihren Blick auf das Gute und eine hoffnungsvolle Zukunft. Im Jahre 1993 ist natürlich vieles einfacher, dennoch verspürt Johanna selbst ihre innere Leere als lähmend. So ist ihr Weg nicht minder interessant, obwohl sie natürlich nie ums nackte Überleben kämpfen muss.

Mit ruhigen und leicht fließenden Worten kann sich Karin Lindberg in all ihre Figuren hineinversetzen, sodass das Leben in Lüneburg auch für den Leser sehr realistisch dargestellt wird. Rasch kann man sich den gemütlichen Rosenhof vorstellen mit all seinen damaligen und heutigen Bewohnern. Die Erwähnung von schmackhaftem Anhalterkuchen und anderen ostpreußischen Köstlichkeiten passt perfekt, die Liebe zum Tier ganz allgemein und die Erinnerungen an die bekannten Trakehnerpferde aus Ostpreußen runden das Bild wunderbar ab. Es sind schließlich die winzigen Details, welche für Authentizität und Glaubwürdigkeit sorgen. Dafür hat Lindberg genauestens recherchiert und / oder noch eigene Erfahrungen eingeflochten.

Zwei herzliche und glaubwürdige Geschichten in einem Buch, knapp und doch gekonnt miteinander verknüpft – das ist hier ausgezeichnet gelungen und hat – wieder einmal – für berührende Stunden beim Lesen gesorgt.

 

Titel Ein Mädchen aus Ostpreußen

Autor Karin Lindberg

ASIN B0BCH7ZZHL

Sprache Deutsch

Ausgabe ebook, ebenfalls erhältlich als Taschenbuch (379 Seiten)

Erscheinungsdatum 14. Februar 2023

Verlag Tinte und Feder