Rezension

23.2.1933 und die Folgen

Die Tagesordnung - Éric Vuillard

Die Tagesordnung
von Éric Vuillard

Bewertet mit 4.5 Sternen

20. Februar 1933: Auf Einladung des Reichstagspräsidenten Hermann Göring finden sich 24 hochrangige Vertreter der Industrie zu einem Treffen mit Adolf Hitler ein, um über mögliche Unterstützungen für die nationalsozialistische Politik zu beraten: Krupp, Opel, BASF, Bayer, Siemens, Allianz – kaum ein Name von Rang und Würden fehlt an den glamourösen runden Tischen der Vermählung von Geld und Politik. So beginnt der Lauf einer Geschichte, die Vuillard fünf Jahre später in die Annexion Österreichs münden lässt. Bild- und wortgewaltig führt er den Leser in die Hinterzimmer der Macht, wo in erschreckender Beiläufigkeit Geschichte geschrieben wird. Dabei erzählt er eine andere Geschichte als die uns bekannte, er zeigt den Panzerstau an der deutschen Grenze zu Österreich, er entlarvt Schuschniggs kleinliches Festhalten an der Macht, Hitlers abgründige Unberechenbarkeit und Chamberlains gleichgültige Schwäche. Mit der ihm eigenen virtuosen Eindringlichkeit und satirischem Biss seziert Vuillard die Mechanismen des Aufstiegs der Nationalsozialisten und macht deutlich: Die Deals, die an den runden Tischen der Welt geschlossen werden, sind faul, unser Verständnis von Geschichte beruht auf Propagandabildern. In »Die Tagesordnung« zerlegt Éric Vuillard diese Bilder und fügt sie virtuos neu zusammen: Ein notwendiges Buch, das eine überfällige Geschichte erzählt und damit den wichtigsten französischen Literaturpreis erhielt.

Vorweg: Dies ist eins der ungewöhnlichsten Bücher, die ich jemals gelesen habe. Éric Vuillard beweist, dass Literatur nach wie vor zu den Künsten gehört, und dass Autoren auch heute etwas noch nie Dagewesenes schaffen können.

Ein Buch aus dem historischen Genre zweifelsohne, denn Gegenstand und Thema sind Hitlers Treffen mit den Größen aus Industrie und Wirtschaft am 20.2.1933, im weiteren Verlauf der Einmarsch in Österreich und wie es dazu kommen konnte; ein paar Mal fällt der Blick auf Nebenschauplätze wie England oder Frankreich.

Es waren gesellschaftliche Größen und hoch angesehene Männer, die mit horrenden Summen aus ihrem Privatvermögen und ihren Firmen und Betrieben den Wahlkampf der NSDAP aktiv unterstützten. Während sich die Geschichtsforscher in der Bewertung dieses Treffens für Hitlers Ziele nicht vollkommen einige sind, ist Vuillards Standpunkt eindeutig.

Er betrachtet das Ganze mit bösem Blick, satirisch, bewertend, verurteilend, mitunter scheint es, als könne er bis heute nicht glauben, was in den 1930/1940ern in Europa passierte. Wo Historiker noch versuchen, Verständnis für schwache, kleinmütige Politiker zu wecken (Schuschnigg), urteilt Vuillard gnadenlos, seziert die Untergrabung der Autorität und den Wankelmut der politischen Machthaber. Der Autor will keine sachliche Distanz, sondern emotionale Wahrhaftigkeit. Und dort, wo historische Details der Nachwelt nicht überliefert sind, z.B. bei nicht-protokollierten Vier-Augen-Gesprächen, bekennt er sich dazu, anhand der Konsequenzen und des Wissens um die folgenden Ereignisse zu spekulieren. Unbarmherzig und unerbittlich forscht er nach Beweggründen, die nicht nur die Mächtigen, sondern auch „das Volk“ dazu brachten, dort zu jubeln, wo Widerstand angebracht gewesen wäre.

Dass Fake News nicht von den neuen Medien unserer Zeit erfunden wurden, beweist Vuillard eindrucksvoll. Denn was wir heute für Live-Mitschnitte von Veranstaltungen der NS-Zeit halten, ist zum Teil für die Wochenschau und die Propaganda mit einer Tonspur unterlegt worden.

Und die Qualitätsmängel von militärischem Gerät und Fahrzeugen sind nicht erst seit Ursula von der Leyen zu beklagen.

Einen Großteil der NS-Täter betrachtet Vuillard im Licht der Nürnberger Prozesse. Doch die Täter im Hintergrund, diejenigen, die sich am 23.2.1933 trafen und Hitler ein Vermögen zuschoben, gehörten trotz der deutschen Niederlage zu den Gewinnern: Einige ihrer Fabriken existieren bis heute.

Doch die Historie allein wäre Vuillard vermutlich zu wenig. Daran ist nichts mehr zu ändern, auch wenn man sich bis heute fragt, wie um alles in der Welt es zu den Verbrechen des Dritten Reiches kommen konnte. Der Einfluss derer, die mit ihrem Geld die politische Richtung bestimmen, ist unverändert. Und Lehren aus der Geschichte zieht sowieso niemand, sonst könnten Rassismus und Antisemitismus in unserer Zeit nicht neu aufblühen.