Rezension

ALLEIN

Meine Zeit der Trauer - Joyce Carol Oates

Meine Zeit der Trauer
von Joyce Carol Oates

Bewertet mit 3 Sternen

Joyce Carol Oates und Raymond Smith waren über ein halbes Jahrhundert ein Paar. Im Moment seines Todes ist Oates nicht nur dem Schmerz des Verlustes und dem Alleinsein ausgesetzt, sondern auch der Tatsache, weiterleben zu müssen. Wie sieht ein Leben aus, wenn der Mensch nicht mehr da ist, mit dem man in Freundschaft und Liebe, in Höhen und Tiefen alles geteilt hat? Nie zuvor hat Oates so tiefen Einblick in ihr Innerstes gegeben. Hier tut sie es, bewegend, klug und überraschend. Wir lernen eine andere Joyce Carol Oates kennen: eine starke Frau, die am Ende sagen kann »Dies ist jetzt mein Leben«. (von der Verlagsseite kopiert)

Sie waren über 40 Jahre verheiratet, arbeiteten in ähnlichen Berufen, und man sah sie nur zu zweit: Joyce Smith (in der Öffentlichkeit: Joyce Carol Oates) und Raymond Smith. Er stirbt kurz vor seinem 78. Geburtstag im Februar 2008. Plötzlich und unerwartet. Sie, die zwar nach außen eine selbstbewusste und erfolgreiche Schriftstellerin und Professorin ist, im Grunde aber von ihm beschützt und von den alltäglichen Widrigkeiten abgeschirmt wurde, muss sich einem Leben ohne ihren Mann stellen.

Im Allgemeinen lese ich die Romane nicht, in denen jemand sein schreckliches Schicksal beklagt und als Buch unters Volk bringt. Bei Joyce Carol Oates habe ich es riskiert, weil ich sie als Autorin sehr schätze und eine andere Art von literarischer Verzweiflung erwartete. Aber allzu groß sind die Unterschiede nicht. Abgesehen von dem brillanten Stil und der ausgefeilten Sprache,  mit der Oates auch in diesem autobiographischen Roman wieder glänzt.

Insofern lässt mich das Buch ratlos und zweifelnd zurück. Über ihren Schmerz, ihre Todessehnsüchte und ihre Depressionen habe ich nicht zu urteilen, doch das Buch wirft einige Fragen auf:

Oates spricht immer wieder die tiefe Liebe und Freundschaft an, die sie mit ihrem Mann verband, betont gleichzeitig, dass sie einander nie mit negativen Nachrichten, mit Kummer und verletzten Gefühlen belastet haben. Widerspruch?

Dass alle verstorbenen geliebten Partner nach ihrem Tod wie Heilige dargestellt werden, weiß man. Nur kann ich als Leser, der den Toten nicht kennt, mir kein wahrhaftiges Bild von ihm machen. Worauf kommt es also an?

In Gesellschaft anderer Menschen, sowohl ihrer Schüler als auch ihrer Freunde, bei beruflichen und privaten Anlässen geht es ihr besser. Ist es also Raymonds Tod, der ihr zu schaffen macht? Oder ist es das Leiden an der Einsamkeit?

Es geht ihr immer schlechter und schlechter; sie kann nicht mehr schlafen, nimmt Schlaftabletten und Antidepressiva in der ständigen Angst, abhängig zu werden, bekommt eine Gürtelrose, und auf einmal, nach 6 Monaten etwa, hat sie es anscheinend geschafft. Sie schläft, sie isst wieder, sie hat die schlimmste Zeit ihres Lebens überwunden – aber wie?

Während Oates detailliert jede Gefühlsregung und jeden Gedanken schildert, ihren Abgrund vor dem Leser ausbreitet, wird die Heilung in wenigen Abschnitten als Ergebnis abgehandelt.

Ob es der neue Mann war, der sie gesund machte, und den sie ein Jahr nach dem Tod von Raymond Smith heiratete?

Es bleibt die Frage, warum eine scheue und zurückhaltende Frau wie Joyce Carol Oates das intime Gefühl ihrer Trauer, zugegeben auf eine exquisite literarische Art zu Papier gebracht, in einem Buch öffentlich macht?