Rezension

Am unteren Ende der Hackordnung

Das Ende von Eddy - Édouard Louis

Das Ende von Eddy
von Edouard Louis

Bewertet mit 5 Sternen

In Eddys Dorf in Nordfrankreich ist man sich einig, was ein echter Kerl ist. Kräftig gebaut, trinkfest; und natürlich schlägt so einer im Suff auch mal kräftig zu. Damit muss man leben. Die Ehefrauen der gestandenen Mannsbilder unterwerfen sich der ausgeübten Gewalt, kopieren sogar die Sprache ihrer Männer und spielen deren Gewalttätigkeit herunter. Männer arbeiten hier in der Fabrik, Frauen als Kassiererin im Supermarkt - solange die Knochen es aushalten. Eddy ist anders als sein Vater und seine Brüder, schmächtig, mit einer hohen Stimme und kein Fußballspieler. Da ein echter Kerl männliche Söhne erwartet, ist Eddy für seinen Vater eine riesige Enttäuschung. Wer sich für Schlagersängerinnen interessiert und am liebsten mit Mädchen spielt, hat in der Schule nichts zu lachen. Eddy wird ausgegrenzt, misshandelt und schließlich öffentlich bloßgestellt. Inzwischen ist sein Vater arbeitsunfähig und damit auf der sozialen Hackordnung ganz unten angekommen. Wer in den letzten Tagen des Monats hungert und friert, bis es wieder Geld gibt, richtet sich daran auf, dass andere noch tiefer stehen als er selbst. Die Dorfbewohner hetzen über Einwanderer, Homosexuelle und Menschen, die nicht arbeiten.

Für Eddy ist das Dorf zum Gefängnis geworden. Sein Vater hat die Familie mit seiner Hetze gegen Minderheiten und Leute, die sich für etwas Besseres halten, so isoliert, dass Eddy keine Ahnung hat von Schulen in anderen Städten, Internaten und Stipendien für begabte Schüler wie ihn. Doch es gibt einen Fluchtweg aus der Enge des Dorfes. Spätestens als Erwachsener erkennt Eddy, dass sein Vater Schule, Bildung, Ärztliche Behandlung, alles Fremde ablehnen musste aus Angst seine Position als Mann und seinen Sohn zu verlieren. Auch hätte er sich dann eingestehen müssen, dass Fabriken, über denen ein langer Schornstein tront, Symbole einer untergehenden Epoche sind und er mit dieser Epoche untergegangen ist.

Auch Sprache kann als Werkzeug für Diskriminierung dienen. Durch eine sorgsame Übersetzung, (die Ausdrücken des französischen Originals Raum lässt und eine Erklärung des Übersetzers zu Eddys Familiennamen 'Bellegeule' voranstellt), wird die Aufmerksamkeit dafür geweckt, wie ausgegrenzt werden kann, wer sich der herrschenden Mehrheit nicht unterwerfen will. Eddys Ausgrenzung steht stellvertretend für jede Ausgrenzung. Ob er tatsächlich homosexuell oder sein Heimatort homophob ist, finde ich dabei nicht wichtig.

Eddy Bellegueules Schicksal erschüttert, weil der Autor und sein Protagonist erst nach 1990 geboren sind. Das geschilderte Ausmaß des Unwissens noch in der Gegenwart ist nur schwer vorstellbar. In einer Zeit, in der in Frankreichs Vorstädten Bibliotheken als Vorposten des verhassten Staates in Brand gesteckt werden, wirft Édouard Louis Roman die Frage danach auf, ob und wie ein Bildungssystem für die Teilhabe aller Kinder aus allen Bevölkerungsschichten sorgen kann.