Rezension

Anfangs billig, wird aber nach und nach tiefgründiger

The Girl Before - Sie war wie du. Und jetzt ist sie tot. - JP Delaney

The Girl Before - Sie war wie du. Und jetzt ist sie tot.
von JP Delaney

Wie wichtig ist uns Privatsphäre in Zeiten, in denen wir täglich im Internet unsere Daten ausstreuen, in Zeiten, in denen unser Standort über die GPS-Daten unseres Smartphones ermittelt werden können. Würdest Du Deine Privatsphäre auch aufgeben, nur um möglichst billig wohnen zu können? Ein Leben, reduziert auf das Allernotwendigste? JP Delaney wagt dieses Gedankenexperiment in „The Girl Before“.

Damals: Emma ist traumatisiert, nachdem bei ihr und ihrem Freund eingebrochen wurde, später erfährt man noch, dass sie von einem der zwei Einbrechern vergewaltigt wurde. Sie kann nicht weiter dort wohnen; und das Sexleben mit Simon liegt ebenfalls brach. Also bewerben sich die beiden um Folgate Street 1, dem hypermodernen Haus von Edward Monkford.

Schnitt.

Heute: Jane ist traumatisiert, nachdem sie eine Totgeburt erlitten hat. Sie braucht einen Tapetenwechsel und kündigt bei ihrer hochbezahlten Arbeitsstelle. Jetzt, wo sie sich die Wohnung, in der sie lebt, nicht mehr leisten kann, muss sie sich nach etwas Neuem umsehen; aber das ist ihr nur recht. Also bewirbt sie sich um Folgate Street 1, dem hypermodernen Haus von Edward Monkford.

Immer wieder wechseln sich die Stränge von Emma und Jane ab und teilweise sind sie so wortgleich wie die Beschreibung der zwei Frauen über diesem Absatz hier. Das ist nichts Schlechtes, sondern symbolisiert nur, wie Edward Monkford die beiden Frauen, die unmittelbar nacheinander in seinem Haus wohnen, behandelt – nämlich in manchen Punkten völlig identisch. Zwischen den beiden Erzählsträngen, die beide in der ersten Person im Präsens gehalten sind, liest man immer wieder Auswahlfragen, die an einen Psychotest erinnern, mit Fragen wie „Eine neue Freundin erzählt dir, dass sie früher wegen einer Straftat im Gefängnis saß – was tust du?“. Im Emma-Strang werden die Dialoge nicht gekennzeichnet, kein „", kein »«, kein kursiver Text; Cormac McCarthy hat es in „Die Straße" ähnlich gehandhabt, allerdings war dort klar, wenn ein Dialog stattfindet – bei Delaney hab ich etwas gebraucht, bis ich mich daran gewöhnt habe, weil es zwar zu 90% behelfsämßig gekennzeichnet ist, aber eben nicht zu 100%..

Das Haus von Monkford, in das die beiden Frauen einziehen und das zwischendurch Gefängnis, Festung und Führerbunker genannt wird, hat weder eine Türglocke noch Vorhänge; wenn man darin einzieht, darf man nur das Allernotwendigste mitnehmen, Kinder sind genauso verboten wie Haustiere, Nippes oder Tischdeckchen. Es gibt ein hauseigenes Internet, das „Housekeeper“ heißt und im Garten darf nichts angebaut werden. Genauso minimalistisch wie das Haus, ist auch Monkford selbst – das merkt man als erstes, wenn er die Frauen ins Bett bekommen möchte; er redet nicht darum herum.

Besonders in der ersten Hälfte ist das Buch mit sehr detaillierten Sexszenen gespickt, die eine Mischung aus „Shades of Grey“ und allem von Richard Laymon sind. Gerade da dachte ich mir, dass es ziemlich billig wirkt. Aber in der zweiten Hälfte wird die Geschichte mit den Themen der beiden Frauen – Vergewaltigung und Totgeburt – um einiges tiefgründiger und auch wesentlich interessanter und spannender. Während man in Emmas Strang erfährt, wie sie gelebt hat, findet man im Strang um Jane immer mehr darüber hinaus, wie sie gestorben ist, wobei es manchmal wirklich schwer ist, die beiden Erzählstränge auseinanderzuhalten, weil sich einerseits die zwei Protagonistinnen anfangs ziemlich ähnlich sind und andererseits ihre Freundeskreise bzw. dessen Figuren überhaupt keine markanten Merkmale haben. Dafür lässt uns Delaney mitraten, was mit Emma passiert ist; war es Selbstmord oder Mord, und wenn Mord, wer war es?

Umso markanter ist die Spannung. Ich erlebe es selten, dass mich ein Buch fesselt, hier konnte ich es kaum weglegen; beim Wiedereinstieg hat es allerdings meistens gedauert, bis ich wieder drin war, eben weil man die Stränge teilweise nur schwer auseinanderhalten kann und ich nicht mehr wusste, was bei wem gerade geschehen war. Am Ende sollte man  auf jeden Fall die Danksagung lesen; vor allem die letzten Zeilen sind sehr ergreifend.

Fazit: „The Girl Before“ wirkt anfangs billig, wird aber nach und nach immer tiefgründiger. Die Spannung ist wohldosiert, und man wird nicht mit Cliffhangern erschlagen – ein guter Psychothriller für zwischendurch. Mehr Rezensionen gibt es auf Krimisofa.com