Rezension

Antigone immer noch im Krieg

Die vierte Wand - Sorj Chalandon

Die vierte Wand
von Sorj Chalandon

Bewertet mit 4.5 Sternen

Paris 1982: Georges verspricht seinem sterbenskranken Freund Samuel, einem Theaterregisseur, seinen Herzenswunsch zu erfüllen: die Aufführung von Jean Anouilhs Stück ›Antigone‹ im vom Bürgerkrieg zerrütteten Beirut, direkt an der Front, in einem zerbombten Kinosaal, mit einem Ensemble, das sämtliche Kriegsparteien repräsentiert. Viel List ist von Nöten und immer wieder muss Georges Zugeständnisse machen. Wird es gelingen, das Stück aufzuführen und dafür den Krieg für zwei Stunden ruhen zu lassen? (von der dtv-Verlagsseite kopiert)

Auch mit seinem dritten ins Deutsche übersetzten Roman beweist Chalandon, dass er es meisterhaft versteht, den Leser eng an einen Protagonisten zu binden und ihn auf dessen Handlungen, Gedanken und Gefühle einzuschwören. Es sind vor allem Situationen des kriegerischen Kampfs, in die Chalandons seine Ich-Erzähler verstrickt; nach dem 2. Weltkrieg (Die Legende unserer Väter) und den Auseinandersetzungen der IRA (Rückkehr nach Killybegs), geht es hier um aktuelle und undurchschaubare Kriege: Pulverfass Naher Osten.

Georges gehört zu den Nach-68ern, den revolutionären Studenten, die im Paris der 1970er Jahre auf die Straße gehen, Plakate und Fahnen an die Mauern heften und sich mit rechten Gruppierungen und Polizisten Gefechte liefern. Sam, ein griechischer Jude, älter als Georges und seine Kommilitonen, steht ihnen politisch zwar nahe, betrachtet die Aktionen jedoch mit sachlicher und ruhiger Distanz. Ihrer beider Gemeinsamkeit über das Politische hinaus ist die Regiearbeit bei Theaterstücken.
Jahrelang haben sie sich aus den Augen verloren. Georges ist inzwischen mit einer Genossin verheiratet; sie haben ein Kind. Sie sehen sich im Krankenhaus wieder, wo Sam mit dem Tode ringt; er bereitet die „Antigone“ von Jean Anouilh vor, um sie im besetzten Beirut mit Darstellern verschiedener Religionen und politischer Gruppen zu proben und aufzuführen, dazu eine zweistündige Waffenruhe durchzusetzen, und er verpflichtet seinen Freund, diese schwere Aufgabe zu vollenden. Georges fliegt ins besetzte Beirut.

Bis Georges nach den ersten Besprechungen für kurze nach Hause zurückkommt, gönnt der Autor dem Leser keine Pause vor den Gräueln des Krieges. Der Krach der Geschosse, die Suche nach dem nächsten Versteck vor den Heckenschützen und das Horrorgefühl ständiger Angst begleiten Protagonist und Leser. Dennoch: Es gelingt Georges, Sams Truppe auf die Antigone einzuschwören und jedem seine Rolle quasi auf den Leib und die Gesinnung zu schneidern – im Zweifel sogar eine der Rollen im Drama umzuformen.
Die Art und Weise, wie Georges seine Schauspieler der Antigone annähert, lässt vermuten, dass Chalandon die Pädagogik der Nach-68er-Lehrergeneration kennt. Es wird tatsächlich alles zu harmonisch, um wahr zu sein.

Georges fliegt ein zweites Mal ins Kriegsgebiet, diesmal für Generalprobe und Aufführung. Er wird noch Schrecklicheres erleben als bei der ersten Reise, und er wird sich davon nicht mehr erholen.
Wer genau gegen wen kämpft und warum: Außer im Fall der Israelis und Palästinenser weiß man es immer noch nicht. Und man bekommt den Eindruck, dass manche Krieger und Soldaten es auch nicht (mehr) wissen.

Es gelingt Chalandon, Stränge zu verknüpfen, ohne dass dies aufgesetzt oder unecht wirkt: Ein terroristischer Anschlag, den Georges’ Studentengruppe verharmloste und dessen Opfer er jetzt trifft. Oder das Antigone-Motiv des symbolischen Bestattens. Oder das – wörtlich zu nehmen – dramatische Ende.

Wenn man ein Buch gelesen hat, das emotional aufwühlend ist wie dieses, und das tagelang im Kopf spukt, stellt sich die Frage, ob lediglich die Handlung und das Schicksal des Protagonisten packt oder ob auch die literarische Qualität stimmt (ich erinnere an „Im Westen nichts Neues“, für das Remarque sich in einigen Feuilletonartikeln das Wort „Kriegskitsch“ gefallen lassen musste).
Der Aufbau des Buches ist klar, die Sprache ist deutlich und eingängig, die Charaktere sind überzeugend gezeichnet – damit ist die Antwort gegeben.