Rezension

Auch der zweite Band ist bärenstark.

Ein Rätsel auf blauschwarzem Grund -

Ein Rätsel auf blauschwarzem Grund
von Lars Mytting

Bewertet mit 5 Sternen

Wer den ersten Band kennt, muss auch den zweiten lesen!

In diesem Roman setzt sich die Saga über das norwegische Gudbranstal fort, das mit dem ersten Band „Die Glocke im See“ überaus geheimnisvoll und erzählerisch dicht mit den siamesischen Zwillingen Halfried und Gunhild, circa 1880 ihren Ausgang nahm. Einst wurde das Tafelsilber der Familie Hekne mit in die Kirchenglocken gegossen, die ihren Guß in Auftrag gab. Die Glocken sind zu Ehren der früh verstorbenen Schwestern benannt, heißen also auch Halfried und Gunhild, und es ranken sich Sagen, Mythen und Geschichten um sie. Niemand außer der engsten Familie darf die Kirchenglocken mit eigenen Augen ansehen, sonst stirbt er! Nun liegt eine der Glocken im See in Norwegen, die andere hat weit weg ein Zuhause gefunden. Wenn ein Unglück geschieht, bzw. bald geschehen soll, dann läuten die Glocken ohne menschliches Zutun. 

Mit den Heknezwillingen beginnt auch der zweite Band der Saga. Es wird erzählt, wie der sogenannte Hekneteppich entstand in den Zeiten der Hekneschwestern, die ihn gewebt haben. Nun aber ist er verschwunden. Verlorengegangen wie die Glocken. Freilich kann der Pfarrer diesmal nix dafür. Die bösen Schweden sind schuld. Oder die Dänen. Auch die Schotten sind nicht unschuldig. Es gab da ein Kriegsscharmützel. Nur der Pfarrer ist unschuldig, denn den gab es damals noch gar nicht.

Pfarrer Schweigard ist fest davon überzeugt, dass es den Hekneteppich noch gibt. Er sucht ihn. Und auch die Glocken, heißt es, werden eines Tages gehoben werden beziehungweise die eine, die im See liegt. Ob auch die andere nach Hause kommt und die Glocken wieder im Gleichklang schlagen und klingen werden, ist unklar. 

Pfarrer Schweigard ist nun schon sehr lange im Gudbranstal auf seiner Pfarre. Und war er anfangs als junger Pfarrer wild entschlossen, jeden Aberglauben auszurotten mit Stumpf und Stil, ist er nun, in die Jahre gekommen, nachdenklich geworden. Ob es nicht doch mehr zwischen Himmel und Erde gibt als man so gemeinhin glaubt? Und ob es wohl stimmt, dass der Teppich seinen eigenen Tod vorausagt? Er müsste ihn denn finden, dann wüsste er es! Längst bereut er, dass er die berühmte Stabskirche nach Deutschland verkauft hat. Und mit ihr seine Seele? Das gebrochene Versprechen seiner großen Liebe Astrid gegenüber, dass er wenigstens die Glocken für ihr Heimatdorf retten wird, läßt ihm keine Ruhe. Ja, dass Kirche und Glocke/n weg sind, ist seine Schuld! Obwohl er nur das Beste für die Menschen wollte. Gut gewollt ist aber nicht gleich gut gemacht!

Der Kommentar:
Lars Mytting versteht es, seine Figuren mit Hintergrund auszustatten. Er kann Szenen schreiben, die treiben einem das Wasser in die Augen. So mitreißend und naturnah schreibt er! Es ist ein Vergnügen, seiner Geschichte zu folgen. 

Freilich spannt er im zweiten Band zeitlich einen weiten Bogen über den Ersten Weltkrieg hinaus. Manchmal finde ich es schade, dass Lars Mytting so voraneilt. Das Gemächliche des ersten Bandes geht allmählich verloren. Und ein bisschen norwegischer Zauber verblasst. Dennoch wird es natürlich niemals langweilig. Er fängt das Leben des bäuerlichen Norwegens ein, wie es war und beschreibt, wie die Moderne es verändert. Doch, zum Guten. Meistens wenigstens. 

Im ersten Band bleibt freilich immer offen, ob es die übernatürliche Welt wirklich gibt oder ob nicht alles, was "die Alten" erzählen nur in deren Einbildungen vorhanden ist. Irgendwie muss man sich die Welt ja erklären und sie wussten es nicht besser. So war alles, was geschah und geschieht uneindeutig: Jede Vorahnung konnte auch eine natürliche Ursache haben, obwohl ein Rest an Unerklärbarem blieb und bleibt. Aber niemals soviel, als dass man nicht doch zweifeln würde. 

Im zweiten Band schwingt die Waage eindeutiger aus. Das ist mein einziger Kritikpunkt an dem Roman. Ich wäre gerne mehr im Dazwischen geblieben, es kann so sein oder es kann so sein. Ein Hauch, ein kalter Hauch von drüben, aber eben mehr nicht. Das machte für mich den eigentlichen Reiz von „Die Glocke im See“ aus. Aber obwohl Mytting in „Ein Rätsel auf blaugrauem Grund“ der Versuchung nachgibt, mehr spookier zu sein als es dem Roman gut tut, unzweideutig jenseitig und der Autor dabei auch ein wenig heftig auf die Pauke haut, bleibt Myttings Roman dennoch so voll Erzählkunst und Erzählwitz, dass ich keine Abstriche bei der Bewertung machen will. Aber beinahe, beinahe hätte ich deswegen einen Stern abgezogen. It is too much!

Fazit: Sprachlich und gestalterisch bleibt Mytting auch mit dem zweiten Band nicht hinter dem ersten zurück. Immer wieder überrascht er mit einer neuen Wendung, einer neuen Sichtweise. Seine Figuren sind gehaltvoll, sie haben die berühmte Tiefe. Und seine Frauenfiguren punkten. Mit einem Wort: Mytting ist und bleibt lesenswert. Ein wunderbarer Schmöker. Beide Bände zusammen unter dem Weihnachtsbaum oder zu jeder anderen Jahreszeit als Geschenk, machen jedem Leser Freude!  

Kategorie: Belletristik. Abenteuerroman
Verlag: Insel 2021