Rezension

Außergewöhnlicher Erzählstil

Der Himmel vor hundert Jahren -

Der Himmel vor hundert Jahren
von Yulia Marfutova

Bewertet mit 4 Sternen

In einem kleinen, weit abgeschiedenen, russischen Dorf um 1918, der Zeit nach der Revolution, begegnen wir Ilja und Pjotr sowie ihren Anhängern. Technischer Fortschritt und hohe Politik sind weit entfernt, das Weltbild wird gezeichnet von Krankheit und Aberglauben. Das Hauptinteresse der Dorfbewohner gilt der Wettervorhersage, weil die richtige Reaktion auf das Wetter die Ausbeute der Feldwirtschaft erhöht. In dieser Welt leerer Mägen geht es ums nackte Überleben. Während Ilja das zukünftige Wetter von einem Röhrchen ableitet, befragt Pjotr die Flussgeister.

Dieser Roman lässt sich nicht so einfach in eine Schublade stecken. Er berichtet von etwas Historischem, ist gleichzeitig auf das aktuelle Umbruchgeschehen übertragbar. Er erzählt konkret von der Zeit kurz nach der Revolution, fühlt sich allerdings auch irgendwie märchenhaft an, unwirklich. Der Roman berichtet über Ereignisse, ohne richtig darüber zu sprechen. Er beginnt mit einem Aspekt, verliert sich dann im Hundertstel und Tausendstel, landet bei einem neuen Schwerpunkt, um sich abermals zu verlieren. Betrachtet man einzelne Abschnitte liegt das Geschehen im Nebel, erst durch die Sicht auf den Roman als Ganzes entsteht eine Vorstellung von der übergreifenden Situation. Ich fühlte mich beim Lesen ein bisschen an den Erzählhabitus meiner Oma mit ihren Nachbarn und Besuchern erinnert. Diese Altersgruppe hatte ebenfalls eine ellenlange, beschreibende Erzählweise. Um Personen zu identifizieren wurde beispielsweise „die dritte Tochter von der Nachbarin zwei Häuser rechts von Liselotte Müller verkehrt jetzt mit dem Ältesten von dem Schreiner-Otto seinem Sohn“ gesagt. Darüber hinaus arbeitet die Autorin mit starken Metaphern. Ilja und Pjotr sind mit ihrem Handeln nicht nur Dorfbewohner, sondern in meiner Wahrnehmung auch die Vertreter für das Zeitgeschehen.

Obwohl es mir schwerer gefallen ist, dieses Sprachkonstrukt zu lesen, hat mir die geschichtliche Auseinandersetzung gut gefallen. Historisch Geschehenes kann im Geschehen von heute reflektiert werden. Verklärung durch mangelnde Aufklärung hatte ich im Fokus oder auch gänzlich fehlende Information vs. Informationsoverflow. Es ist weniger der Bericht an sich, sondern mehr das, was er an weiteren Gedankengängen anschubst, was ihn für mich besonders macht.

Ich empfehle ihn sehr gern an alle, die auch das mühevolle Lesen lieben.