Rezension

Weltgeschichte, Dorferleben

Der Himmel vor hundert Jahren -

Der Himmel vor hundert Jahren
von Yulia Marfutova

Ein russisches Dorf vor etwa hundert Jahren - wann genau, erfahren wir nicht, denn die Bewohner haben eine sehr freie Zeitrechnung, Bücher gibt es nicht, und Lesen kann ohnehin keiner. Da gibt es irgendwo einen Krieg, in den die jungen Männer abkommandiert wurden; angeblich ist er vorbei, aber da die Rekruten noch nicht zurückgekehrt sind, kann das ja wohl nicht sein. Viel wichtiger ist doch das Hier und Jetzt: Wovon kann man den Hunger stillen? Dafür ist es ganz wichtig, das Wetter vorherzusagen. Das kann Ilja, der ein gläsernes Röhrchen mit Quecksilber befragt und viele Anhänger im Dorf hat. Sein Gegenpol ist Pjotr, der lieber den Fluss beobachtet. Wissenschaft oder Naturbeobachtung? Bestimmend für das Dorf ist noch ein Drittes: Aberglaube und überkommende Riten und Sprüche: Als Iljas Frau ein Messer herunterfällt, weiß sie ganz genau, was das bedeutet - es wird ein Mann kommen. Das trifft tatsächlich ein - aber was will der wortkarge Wadik in der schmutzigen Offiziersuniform eigentlich im Dorf? Er spricht von Ideen und Zukunft, aber was soll das bedeuten? Und was meinen die beiden Männer, die plötzlich auch noch auftauchen und von Realitäten sprechen?

"Und dann? Was passiert dann? Und danach? Und dann nach dem Danach? Und danndanndann? Immer kommt schließlich ein Dann, immer folgt ein Wetter dem nächsten, eine Windrichtung auf die andere, gibt ein Wort das nächste. Nur das Dann, das jetzt kommt, das hat man so nicht erwartet."

Diese Schilderung einer vergangenen Welt ist unmittelbar. Wir erfahren weder den genauen Ort noch die genaue Zeit, denn das ist den Dorfbewohnern nicht wichtig. Das Weltgeschehen (Krieg, Revolution) interessiert nicht; wichtig ist nur das Hier und Jetzt. Die Autorin spürt ihren Figuren nach und verzichtet konsequent auf Interpretation, ja schon auf die Nennung von Begriffen, mit denen der Leser Ideologien verbindet. Unser Wissen, das wir als Nachgeborene haben und dass wir zur Einordnung nutzen, ist hier nicht gefragt. Marfutova nimmt die Perspektive der Dorfbewohner ein, und wir Leser müssen uns wie Anthropologen auf deren Sichtweise einlassen, wenn wir etwas verstehen wollen. Eine sehr ungewöhnliche Erzählweise, die faszinieren kann.

Das Buch steht auf der Nominierungsliste zum Deutschen Buchpreis 2021.