Rezension

Außergewöhnlicher, hochspannender Roman mit Sogwirkung

Das Mädchen mit den blauen Augen - Michel Bussi

Das Mädchen mit den blauen Augen
von Michel Bussi

Bewertet mit 5 Sternen

Die Überlebende

Dieser hochspannende, tragische und sehr berührende Roman von Michel Bussi ist ein ganz besonderes Leseerlebnis. Die ungewöhnliche Geschichte entwickelt gleich zu Beginn eine derartige Sogwirkung, dass man als Leser nicht anders kann, als sich uneingeschränkt auf sie einzulassen und sie bis zum völlig überraschenden und absolut unvorhergesehenen Ende nicht mehr aus der Hand zu legen.

Dies ist der erste Roman von Michel Bussi, den ich gelesen habe, und es wird definitiv nicht der letzte sein. Es gibt zwar viele gute Kriminalautoren, aber nur wenige, die Bussis literarische Ausdruckskraft haben. Er ist für mich ein wahrhaftes Ausnahme-talent in einem populären Genre, das für meinen Geschmack zu überfüllt ist.

Eine schreckliche Katastrophe und ein kleines Wunder

Die Geschichte beginnt 1980, als eine entsetzliche Flugzeugkatastrophe das vorweihnachtliche Jura erschüttert. Der Airbus 5403 von Istanbul nach Paris kollidiert mit einem Bergmassiv und explodiert. Alle 145 Passagiere sterben auf schreckliche Weise. Als die Rettungskräfte am Unfallort eintreffen, bietet sich ihnen ein Bild des Grauens. Doch zwischen all den Toten macht ein Feuerwehrmann eine unglaubliche Entdeckung: Unter den Trümmern liegt ein kleines Baby, leicht verfroren, aber beinahe unverletzt. Nach öffentlicher Bekanntgabe dieses Wunders meldet sich der Großvater, Léonce de Carville, einer der mächtigsten Industriebosse Frankreichs, dessen Sohn Alexandre, Schwiegertochter Véronique und Baby-Enkelin Lyse-Rose de Carville an Bord der Unglücksmaschine waren. Doch als er seine Enkelin aus dem Krankenhaus abholen möchte, geht ein zweiter Anruf ein: Pierre Vitral, Imbissbudenverkäufer aus der Normandie, dessen Sohn Pascal, Schwiegertochter Stéphanie und Baby-Enkelin Emilie Vitral ebenfalls im Flugzeug waren. Schnell stellt man fest, dass auf der Passagierliste zwei Babys standen. Doch wer ist das überlebende Mädchen? Da es zur damaligen Zeit noch keine DNA-Analyse gab, scheint es unmöglich herauszufinden, zu welcher Familie das überlebende Baby mit den stechend blauen Augen gehört. Dies ist vor allem ein gefundenes Fressen für die Presse, die eine Schlagzeile nach der anderen bringt, als die Angelegenheit schließlich vor Gericht landet.

Ein Privatdetektiv auf der Suche nach der Wahrheit

Léonce de Carville versucht mit viel Geld und Einschüchterung, den Fall zu gewinnen, denn er ist überzeugt, dass es seine Enkeltochter Lyse-Rose ist, die die Katastrophe überlebte. Doch die Öffentlichkeit wendet sich auf einmal gegen ihn, den skrupellosen reichen Mann, der meint, mit Geld alles kaufen zu können. Seine Frau Mathilde engagiert schließlich den Privatdetektiv Crédule Grand-Duc, der Licht ins Dunkel bringen soll. Doch seine langjährige Suche verläuft im Sande und so beschließt er - ausgebrannt und verzweifelt - seinem Leben 18 Jahre danach ein Ende zu setzen. Die Ergebnisse seiner Recherchen hat er für das überlebende Mädchen, das sehr mit ihrer ungewissen Herkunft hadert, in einem Exposé zusammengefasst und wirft es an ihrem 18. Geburtstag in ihren Briefkasten. Doch gerade als er sich eine Kugel in den Kopf jagen will, fällt sein Blick auf die alte Zeitung mit der damaligen Schlagzeile, die ihm einen entscheidenden Hinweis auf die Wahrheit über die Identität des Babys gibt. Dieses Detail war ihm nie aufgefallen, obwohl er die Zeitung unzählige Male gelesen hatte. Voller Tatendrang macht er sich daran, seine Recherchen wieder aufzunehmen, aber dazu kommt es nicht mehr: Man findet ihn bald darauf tot in seiner Villa - brutal ermordet und völlig entstellt. Doch Marc, der Bruder des überlebenden Mädchens, das direkt nach ihrem 18. Geburtstag überstürzt ihr Zuhause verlassen hat, ist wild entschlossen, Grand-Ducs Recherchen zum Abschluss zu bringen, um die Identität seiner Schwester endgültig zu klären, nicht ahnend, dass er sich dabei in Lebensgefahr begibt, denn der Killer ist ihm bereits auf der Spur...

Viel mehr als ein atemberaubender Krimi

Ich habe in meiner o.g. Inhaltsbeschreibung bewusst den Namen des Mädchens nicht erwähnt, weil ich euch den Ausgang der Gerichtsverhandlung nicht verraten möchte. Zum anderen gibt es so viele unvorhergesehene Wendungen und Ereignisse, die ihr beim Lesen selbst entdecken müsst, denn sonst ist ja jegliche Spannung dahin. Und dieser Roman ist wirklich atemberaubend. Natürlich ist er in erster Linie ein Krimi, aber er hat auch eine Vielzahl von Facetten, die aus dem Genre fallen. Die scheinbar aussichtslose Identitätssuche des Mädchens steht zwar im Vordergrund, aber Bussi thematisiert auch die immer größer werdenden Klassenunterschiede der Gesellschaft, die Macht des Geldes und den damit einhergehenden wachsenden Einfluss der immens Reichen sowie die ihm gegenüberstehende Machtlosigkeit der Armen. Doch Bussi arbeitet nicht mit verblichenen Klischees: Er hält der Gesellschaft schonungslos den Spiegel vor und zeigt eine Realität, die wir zwar kennen, aber nur ungern wahrhaben wollen. Aber an der Wahrheit kommt niemand vorbei - weder seine Romanfiguren noch seine Leser.