Rezension

Beeindruckender Roman über die Besetzung des Gezi Parks 2013

Die Tage von Gezi - Martin Niessen

Die Tage von Gezi
von Martin Niessen

Bewertet mit 4.5 Sternen

 

Handlung

Im Mai 2013 entstand in Istanbul eine Protestbewegung, die wochenlang zunächst gegen die Bebauung des Gezi Parks und später genrell gegen die autoritäre Politik Recep Tayyip Erdoğans demonstrierte. Dieser reagierte auf die überwiegend friedlichen Proteste, die von Studierenden ausgingen aber schon bald von großen Teilen der Gesellschaft getragen wurde, mit unfassbar brutaler Polizeigewalt, willkürlichen Verhaftungen und verbalen Provokationen. Die Protestbewegung kämpfte dagegen mit jenen Waffen an, die auch schon bei der Occupy-Bewegung in Ägypten eine große Rolle spielten: Humor, Kreativität und das Internet.

Der Autor Martin Niesen, der hauptberuflich als Auslandsreporter des ZDF arbeitet, bekam die Ereignisse um den Gezi Park vor Ort live mit. In „Die Tage von Gesi“ verpackte er seine Beobachtungen mit politischem Hintergrundmaterial in eine Romanform. Aus der Sicht fiktiver Personen werden die damaligen Ereignisse wiedergegeben. Wie wurde aus der wohlerzogenen und politisch eher desinteressierten Studentin Mine über Nacht eine politische Aktivistin? Wie verhält sich ihr Mann, der als Polizist den Auftrag erhält, gegen die Demonstrationen vorzugehen? Ist Kathrin, die Deutsche ist, aber in Istanbul arbeitet, angesichts der brutalen Polizeigewalt moralisch verpflichtet, sich in einen Konflikt einzumischen, der ein Land betrifft, in dem sie sich nur als „Gast“ fühlt? Und kann Marc, ein Journalist vor Ort, angesichts der Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten, die er erlebt, seine journalistischen Grundsätze von Objektivität bewahren?

 

Meinung

Mir hat die Idee, die Tage von Gezi aus verschiedenen Perspektiven darzustellen, außerordentlich gut gefallen, da es so möglich wird, ein vielschichtiges Bild von den Protesten zu zeichnen und unterschiedliche Blickwinkel einzunehmen. Darüber hinaus ermöglicht es die Roman-Form des Buches, sich mit den Protestierenden zu identifizieren und ein Stück weit zu verstehen, was sie antrieb. Insofern erscheint mir das Buch sehr viel wertvoller als ein reiner Tatsachenbericht oder eine nüchterne Reportage, da es nicht nur die Ereignisse wiedergibt, sondern ermöglicht, auch ein Verständnis für den Unmut in der Bevölkerung zu entwickeln. Der Roman ist darüber hinaus geschickt mit politischen Hintergrundinformationen gespickt, die einen Einblick in politische Landschaft und die Gesellschaft der Türkei zu geben. So war mir, obwohl ich sehr viel Zeitung lese und politisch interessiert bin, vor dem Buch beispielsweise nicht bewusst, wie tief gespalten die türkische Gesellschaft ist und wie groß die Kluft zwischen dem konservativen und religiösen Teil auf der einen und dem wohlhabenderen, gebildeteren und westlich orientierten Teil der Gesellschaft auf der anderen Seite ist. Auch die in Westeuropa oft ungläubig wahrgenommene Popularität Erdoğans wird verständlich, wenn der Autor den wirtschaftlichen Aufschwung der Türkei in den letzten Jahren beschreibt, wenngleich seine Aussagen zu Demokratie und Frauen weiterhin schockieren.

 

Fazit

Aus all diesen Gründen hat mich „Die Tage von Gezi“ sehr beeindruckt. Wer einen klassischen Roman erwartet, wird von dem Buch vielleicht enttäuscht werden, da der Autor sich akribisch an die realen Vorgänge hält, statt eine perfekt konstruierte Geschichte vorzulegen. Allen, die sich für Politik, demokratische Bewegungen oder die Türkei generell interessieren, kann ich dieses Buch jedoch nur ans Herz legen. Für alle, die diesen Sommer noch in Istanbul Urlaub machen und sich auch ein wenig für die Menschen in ihrem Urlaubsland interessieren, sollte dieses Buch meiner Ansicht nach ohnehin Pflichtlektüre sein. Mir hat es auf jeden Fall mehr Einblicke in diese faszinierende Stadt am Bosporus gegeben, als meine Reiseführer und so manche Reportage.