Rezension

Begreiflich?

Glaube, Führer, Hoffnung - Susanne Wiborg, Jan Peter Wiborg

Glaube, Führer, Hoffnung
von Susanne Wiborg Jan Peter Wiborg

Bewertet mit 4.5 Sternen

Stettin, Frühjahr 1945. Krieg und Euphorie, Liebe und Tod: Clara S. gehört zu den wenigen Frauen, die in der pommerschen Hauptstadt zurückgeblieben sind. Während die Rote Armee auf der anderen Oderseite steht, glaubt die Vierundzwanzigjährige endlich gefunden zu haben, was sie immer gesucht hat: das wahre, das »heroische« Leben – und die große Liebe noch dazu. In ihrer Götterdämmerungs-Euphorie verfasst die junge BDM-Führerin ein einzigartiges Zeitdokument: ein Bündel Briefe, die überdauern, nachdem sie selbst Anfang Mai 1945 auf Rügen verschwindet.

Rügen, Frühjahr 2015: Warum die Spuren einer verschollenen Tante suchen, deren Ende einen zum Blick in Abgründe zwingt, die eigentlich niemand mehr ausloten möchte? Können wir damit nicht endlich abschließen? Nein, denn Susanne und Jan Peter Wiborg suchen hier eben nicht eine Tante, sondern einen Prototyp, den fremden, scheinbar fernen Schatten, das »da war doch mal was, damals …« in fast jeder deutschen Familie. Hier ist es die weibliche Seite des Fanatismus: ein intelligentes Mädchen, das ursprünglich nur ein wenig mehr wollte als die in Hinterpommern vorgezeichnete Frauenrolle. Was hat sie zur ebenso naiven wie bis in den Tod gläubigen Hitler-Anhängerin gemacht? (Verlagsseite) 

Braucht man nach den Hunderten von historischen Sachberichten und fiktiven oder realen Romanen, den Schilderungen Betroffener und den persönlichen Rechtfertigungen noch ein Buch über den Terror der Nazizeit und die Schrecken des Krieges?
Aber: Was heißt „brauchen“? Noch immer ist die Frage nicht beantwortet, wie ein ganzes Volk, von wenigen Ausnahmen abgesehen, sich kollektiv verführen ließ, den Wahn eines Einzelnen und einiger Fanatiker zu seinem eigenen machte und mit Hurra-Gebrüll Untergang und Tod auf sich nahm.
Das einzige, was bleibt, ist, anhand eines exemplarischen Schicksals die Verführung, die persönliche Übernahme der Ideen und den Kampf für sie zu beleuchten. Und das exemplarische Schicksal auf die Gesellschaft hochzurechnen. 

Die Geschwister Susanne und Jan Peter Wiborg gehören zur ersten Nachkriegsgeneration, zu denjenigen also, die den Krieg und die Nazidiktatur zwar nicht mehr erlebt hatten, aber von den Folgen unmittelbar betroffen waren und deren Fragen unerwidert blieben. Wenn es um Krieg ging, die Verfolgungen, die KZs, die Geisteshaltung, die Schuld: Keine Antworten der Vorgänger-Generation, nur Getuschel, Mutmaßungen, Stochern im Nebel. Im Schulunterricht wurde das Dritte Reich nicht besprochen, in den Familien darüber hinweggegangen.
Durch ein Bündel Briefe ihrer verschollenen Tante Clara, das sie erbten, wurde der Konflikt wieder zum persönlichen Thema. Schwester und Bruder machten sich auf die Suche, in Archiven, in Gesprächen und vor Ort.

Claras Briefe jagen 50 Jahre später noch kalte Schauer über den Rücken, auch wenn ihr Beweggrund, in die BDM-Spitze aufzusteigen, verständlich ist: Tradition und Nazi-Vorstellungen zu folge hatte eine Frau nur eine Aufgabe, die der Ehefrau und Mutter. Bildung, selbstverdientes Geld oder unabhängiges Leben waren nur für Männer vorgesehen. Was macht eine junge, freiheitsliebende und intelligente Frau? Sie nimmt jede Möglichkeit wahr, die sich bietet, um wenigstens einigen ihrer Wünsche und Visionen gerecht zu werden, und das konnte sie nur auf dem Weg des BDM.
Um weiter zu kommen, musste sie als Frau schon damals tüchtiger sein als Männer in ähnlichen Positionen, konsequenter in ihrem Denken, durchsetzungsfähiger auf ihrem Posten, dabei emotional überzeugter und überzeugender in ihrem Enthusiasmus für die braune Denkweise.
Die meisten der überlieferten Briefe richteten sich an ihre Mutter; es ist also nicht endgültig herauszubekommen, ob sie tatsächlich noch kurz vor dem endgültigen Untergang optimistisch war oder lediglich ihre Familie beruhigen wollte.
Zu ihrer politischen Gesinnung kam noch die Liebe zu einem verheirateten Gauleiter, der nach den mysteriösen Geschehen auf Rügen ebenso verschwand wie sie. 

Susanne Wiborg hat Claras Lebensgeschichte spannend aufgeschrieben; man liest mit Erschrecken, mit Abscheu, würde aber vielleicht sogar Verständnis aufbringen, wenn ihr Selbstbetrug nicht mit so viel Borniertheit und Gleichgültigkeit gegenüber dem Elend und dem Leiden der Opfer einherginge. 

Die Überzeugung, dass die Rasse / das Land / die Religion, zu der man selbst gehört, besser sind als andere und man dadurch mehr Rechte an Boden, Geld oder Macht hat, scheint menschlich zu sein. Dass dazu auch das Recht gehört, den anderen zu vertreiben, zu quälen und zu töten, ist, so schrecklich es klingt, Teil der blindgläubigen Ideologien. Wie man weiß und täglich erlebt, nicht nur der braunen.