Rezension

Beunruhigendes Psychogramm

Das Museum der Stille -

Das Museum der Stille
von Yoko Ogawa

Bewertet mit 4 Sternen

Ein junger Mann reist in ein kleines Dorf in der Provinz. Dort soll er für eine alte Dame ein ganz besonderes Museum einrichten. Schon seit Jahren stiehlt sie Gegenstände von verstorbenen Dorfbewohnern, um die Erinnerung an sie aufrecht zu erhalten und ihre Geschichte zu erzählen. Diese Aufgabe geht nun auf den Protagonisten über. Mit Unterstützung der Adoptivtochter der Alten macht er sich an die Arbeit und gerät bald in einen Strudel von Ereignissen.

„Das Museum der Stille“ der mehrfach ausgezeichneten Autorin Yoko Ogawa erschien bereits im Jahr 2005 zum ersten Mal auf Deutsch. Nun liegt im Liebeskind Verlag eine gebundene Neuausgabe vor. Erzählt wird aus Sicht des jungen Kurators in der Ich- und Vergangenheitsform. Somit wissen wir als Leser*innen immer nur so viel, wie er selbst und teilen seinen - im Verlauf der Handlung immer weiter zunehmenden – Widerwillen gegen den Diebstahl der Erinnerungsstücke. Als sich im Dorf düstere Geschehnisse ereignen, schlägt dieser in blanke Angst um.

Im Zentrum der Geschichte steht sicherlich die Erschaffung des seltsamen Museums und die Beziehung des Protagonisten zu der Alten und ihrer Tochter. Je mehr Stücke er auf illegale Weise beschafft und katalogisiert, umso tiefer wird er in den Bann des Museums gezogen – und auf einmal überschlagen sich die Ereignisse: die Briefe an seinen Bruder bleiben immer länger unbeantwortet, ein Sprengstoffanschlag wird im Dorf verübt und ein Serienmörder tötet und verstümmelt junge Frauen. Der bis zu diesem Zeitpunkt eher behäbig daherkommende Roman entwickelt sich zu einem beunruhigenden Psychogramm – wem können wir noch vertrauen? Oder hat am Ende der Protagonist selbst die Finger im Spiel?

Zur besonderen Atmosphäre des Buches trägt auch die Anonymisierung der Figuren bei. Keine von ihnen hat einen Namen, sondern wird nur nach ihrem Alter („die Alte“, „der junge Mann“) oder der Funktion („der Gärtner“, „der Mönch“) beschrieben. Somit entsteht das unangenehme Gefühl, einen Augenzeugenbericht über einen Kriminalfall zu lesen, der unbemerkt irgendwo in Japan geschehen ist und niemals aufgeklärt wurde.