Rezension

Das Leben als leere Leinwand

Die Schulzeit Jesu - J. M. Coetzee

Die Schulzeit Jesu
von J. M. Coetzee

Bewertet mit 5 Sternen

Simón ist in „Die Kindheit Jesu“ ausgewandert und hat sich in einem fremden Land schnell integriert. Unter neuem Namen lebt er mit  Partnerin Inés und Adoptivsohn David. Weil David sich eigensinnig gegen die Schulpflicht zur Wehr setzte, flüchtet die kleine Familie ein zweites Mal, aus Novilla in die Stadt  Estrella. Als Landarbeiter wollen sie zunächst untertauchen;  die Verweigerung der Schulpflicht scheint sie alle in Gefahr gebracht zu haben. Die Eltern beginnen wieder völlig neu, brauchen wieder Hilfe, um sich in die Sitten am neuen Wohnort einzufügen. Die Stadt Estrella wirkt sehr gut organisiert, doch zugleich – beunruhigend – wie ein unbeschriebenes Blatt. Für David muss eine andere Schule gefunden werden. Überraschend schnell finden sich drei ältere Damen, die bereit sind den Schulbesuch des Jungen zu finanzieren, der für ein normales Kinderleben zu intelligent zu sein scheint. Das Elternpaar entfremdet sich zusehends, erkennt vielleicht, dass sie bisher nur ein Zweckbündnis  verband. Doch David gerät  vom Regen in die Traufe, weil im Ort außer staatlichen Schulen nur zwei Tanz- und Musikakademien zur Verfügung stehen. Überraschend schnell lebt er sich in der Privatakademie ein. David verhält sich jedoch zunehmend sonderbar. Selbst für einen Sechsjährigen, der sich mit Don Quichottes Abenteuern selbst das Lesen beigebracht hat, sprengt er jedes vernünftige Maß. Simón erlebt indessen die Schule als Missionierung durch eine Sekte, die Kindern ihre Eltern entfremdet. Gleich zwei Erwachsene verhalten sich den Schülern gegenüber unangemessen. In anderen Ländern wäre ihr Verhalten strafbar – und in Estrella? Hier hatte ich wieder das Bild des unbeschriebenen Blattes vor mir. Wie soll Simón als Einwanderer in einer fremden Umgebung auf Vorkommnisse reagieren, die offensichtlich vertuscht werden?

Das Leben in Estrella ist wie ein unbeschriebenes Blatt. In einfacher Sprache wirft J. M. Coetzee existenzielle Fragen auf eine leere Leinwand, indem er sie einen sechsjährigen Jungen stellen lässt. David blickt mit altkluger Weisheit mitten in sein Gegenüber. Er empfindet die Falschheit des Lebens, die kein Erwachsener auszusprechen wagt. Das Symbol der leeren Tafel durchzieht den gesamten Roman, bietet den Lesern eine Projektionsfläche für ihre Fragen zu Identität, Exil, Integration, totalitären Systemen, zu männlich geprägten Strukturen. Während der erste Band noch das Buch der Stunde zum Thema Flucht zu sein schien, schlägt Coetzee hier einen Haken zum politischen System der aufnehmenden Länder. Der Autor selbst ist aus Südafrika nach Australien ausgewandert. Das Thema Auswanderung beschäftigt in Südafrika nahezu jede weiße Familie mit heranwachsenden Kindern, für die die Eltern in ihrer Heimat keine Zukunft mehr sehen. Die Zahl der Interpretationsmöglichkeiten scheint in der Fortsetzung der Geschichte Davids unendlich zu sein – und die Geschichte noch nicht beendet. Wen das nicht stört und wer den ersten Band bereits kennt, sollte hier zugreifen.