Rezension

Das Mädchen mit dem Drachen

Das Mädchen mit dem Drachen -

Das Mädchen mit dem Drachen
von Laetitia Colombani

Bewertet mit 5 Sternen

"Die Kinder haben alles, außer das, was man ihnen nimmt" (Zitat S. 223)

Dies scheint mir das Kernthema dieses wundervollen neuen Romans von Laetitia Colombani zu sein. "Das Mädchen mit dem Drachen" erschien 2022 (HC, geb.) im S. Fischer-Verlag, Frankfurt/Main. Aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt wurde der Roman von Claudia Marquardt.

Inhalt:

Am Golf von Bengalen will Léna ihr Leben in Frankreich vergessen. Jeden Morgen beobachtet sie das indische Mädchen Lalita, das seinen Drachen fliegen lässt. Als Léna von einer Ozeanwelle fortgerissen wird, holt Lalita Hilfe bei Preeti, der furchtlosen Anführerin einer Selbstverteidigungsgruppe für junge Frauen. Léna überlebt und fasst einen Plan. Als ehemalige Lehrerin will sie Lalita, die für ihre Familie arbeiten muss statt zur Schule zu gehen, lesen und schreiben beibringen. Allen Widerständen zum Trotz gründen Léna und Preeti die erste Dorfschule, die alles verändern wird.

(Quelle: Buchrückentext)

Meine Meinung:

Ein Nachmittag im Juli in Paris ändert das Leben der leidenschaftlichen Lehrerin Léna von einem auf den anderen Moment: Lange ist nicht klar, was der sympathischen Léna widerfahren ist, die sich entschließt, nach Indien zu fliegen und am Golf von Bengalen zu sich zurückzufinden, eine Auszeit zu nehmen, ihr bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Als sie wie jeden Morgen im Meer badet, wird sie von einer Welle mitgerissen und in letzter Minute durch Lalita, die um Hilfe bei Preeti nachsucht, gerettet. Aus Dankbarkeit schenkt sie dem Mädchen einen Drachen und entdeckt, dass Lalita im Restaurant ihrer Eltern mithelfen muss, statt zur Schule zu gehen. Eine Verständigung ist kaum möglich, so dass Léna die Buchstaben ihres Namens in den Sand schreibt: Am nächsten Morgen entdeckt sie Lalita, wie sie die Buchstaben nachzeichnet und fasst den Plan, dem kleinen Mädchen Schreiben und Lesen beizubringen.

Dieses Vorhaben wird jedoch auf zahllose Widerstände treffen und so sucht sie Unterstützung bei Preeti, der Anführerin der "Roten Brigade": Nach anfänglichem Misstrauen nähern sich die beiden Frauen aus verschiedenen Kulturkreisen an und auch Preeti wird wie die Mädchen in ihrer Gruppe von Léna unterrichtet. So versuchen beide, den Mädchen und Kindern im Dorf eine andere Zukunft zu erschließen. Denn "Schule ist der einzig mögliche Ausweg aus dem unsichtbaren Gefängnis, in das die (indische) Gesellschaft sie sperren will" (Zitat S. 219). Nur so kann der Kreislauf Armut, Elend und Analphabetismus unterbrochen werden.

Im bewegenden Romanverlauf sehen wir die Bemühungen Lénas, die Schule gemeinsam mit Preeti, mit der sie nach und nach eine tiefe Freundschaft verbindet, zu eröffnen und den Unterricht für die Kinder, meist Mädchen, zu gestalten. Wir lesen von der (Bildungs)chancenlosigkeit und Verachtung, die die unterste Kaste der Dalits gesellschaftlich begleitet: Dies erzeugt Wut, da die Familien (auch wenn sie auf die Zuarbeit der Kinder wohl leider angewiesen sind) das Gesetz des Verbots von Kinderarbeit erfolgreich unterlaufen, da es nicht für Arbeiten im eigenen Zuhause, in der Familie, gilt. So putzen die Kinder, holen Holz, arbeiten und kümmern sich um die Geschwister, statt zur Schule gehen zu dürfen und ein Recht auf Bildung zu haben.

Lalita entpuppt sich als eifrige Schülerin, die schnell lernt und begreift. Sie wächst Léna ans Herz und am Ende schafft es Lalita, dass ihre Lehrerin trotz ihrer Absicht, nach einem dramatischen Ereignis nach Frankreich zurückzukehren, bleibt und Lalita nicht in ihrer höchsten Not im Stich lässt...

Die Beziehungen zwischen Léna, Preeti und Lalita entwickeln sich stetig und wachsen langsam zusammen, die Figuren werden sehr sensibel nachgezeichnet und sind authentisch. Auch die Atmosphäre in dem indischen Dorf am Meer, in dem Lalita lebt und die Schule gegründet wird sowie die kulturellen Unterschiede der westlichen und indischen Welt werden gut dargestellt, erfahrbar gemacht. Das Kernthema ist für mich Bildung - und auch Solidarität. Zahlreiche wichtige weitere soziale Themen werden benannt: Vergewaltigung und Selbstverteidigung als Prophylaxe der Opfer; die Rechtlosigkeit der Dalits und die Bildungschancenlosigkeit besonders indischer Mädchen, Solidarität unter Frauen, die stark und mutig sind, sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen lassen, aber auch neuen Lebenssinn finden und Traumatas überwinden; Verluste durch neue Projekte, hier ein Schulprojekt, ausgleichen und bewältigen zu können.

Fazit:

Manche LeserInnen mögen die "westliche" Sichtweise durch die Handlungen, Gedanken und Gefühle Lénas und die Eröffnung der Schule am Golf von Bengalen (für Lalita und all die anderen chancenlosen indischen Mädchen) kritisch betrachten, doch ich denke, dass es Laetitia Colombani auch in diesem Roman darum ging, aufzuzeigen, wie 'scheinbar' kleine Projekte und solidarisches Handeln zum Einen lebenssinnerfüllend sein können und zum Anderen Hoffnung in sich tragen, diese (ungleiche, in Bildungsschieflage sich befindende!) Welt ein kleines Stück besser machen zu können. Von mir dafür ein Chapeau und bewegte 5* sowie eine absolute Leseempfehlung!