Rezension

Das Studium als Tragödie

Studierst du noch oder lebst du schon? - Tiphaine Rivière

Studierst du noch oder lebst du schon?
von Tiphaine Rivière

Bewertet mit 4 Sternen

Zu den schönsten Tagen im Leben von Tiphaine Rivière zählt vermutlich der, an dem sie ihren drei Jahre währenden Versuch eine Doktorarbeit zu schreiben abgebrochen hat! Zumindest legt das ihre erste Graphic Novel "Studierst du noch oder lebst du schon?" nahe. Darin rechnet die junge Französin kompromisslos ehrlich mit dem Hochschulwesen ab. 

Die Graphic Novel erzählt von Jeanne Dargan, die beschließt ihren Job als Lehrerin an den Nagel zu hängen, um während eines Sabbaticals an der Pariser Sorbonne zu promovieren. Der Titel "Studierst du noch oder lebst du schon?" ist daher etwas irreführend, doch die Geschichte weist viele Parallelen zum normalen Studienwahnsinn auf, weshalb nicht nur Doktoranden, sondern auch der gemeine Student an vielen Stellen Déjà-vu erleben wird.

Jeanne beginnt ihre Dissertation über Kafkas Torhüterparabel hoch motiviert und grenzenlos enthusiastisch. Sie träumt von intellektueller Selbstverwirklichung, kreativen Höhenflügen, der Anerkennung durch die Professoren, dem Aufstreben in die Bildungselite. Mit vorausschauender Schadenfreude darf der Leser Jeanne bei ihren ersten Schritten auf dem Weg zur Dissertation begleiten, um schließlich dabei zu sein, wenn eintritt, was eintreten muss: das desaströse Aufeinandertreffen von Anspruch und hehren Zielen mit entmutigender Realität und dem inneren Schweinehund.

Dass Jeanne sich an einem Inhaltsverzeichnis abmüht, Punkt 1.3.2.1. mit großer Ernsthaftigkeit gegen Kapitel 4.9.2.1.8.3.3.2.3.5. austauscht (haha, genau so isses!), mehrfach den Titel der Arbeit in Nuancen abändert, Unmengen an Literatur liest, aber keine einzige Seite zustande bringt, den unüberwindbar scheinenden Berg an Arbeit vor sich her schiebt, dabei mehr und mehr verwahrlost, kommt dem Hochschulabsolventen erschreckend bekannt vor. Auch die bürokratischen Hindernisse sind nicht allzu weit hergeholt: Die Sekretärin, die die Studenten gelangweilt abwimmelt, der Doktorvater auf Bildungsreise, der nicht erreichbar ist. Und natürlich immer wieder die lieben Freunde und Verwandten, die Anteil nehmend aber immer drängender fragen: ‚Wann isses denn soweit? Wann bist du fertig?’, um den Studierenden/Doktoranden damit in die vollständige Sinnkrise zu treiben.

In Jeannes Fall spitzt sich die Lage sogar noch etwas heftiger zu. Denn ohne Stipendium muss sie nebenher ihren Unterhalt verdienen, wird dabei als Aushilfsdozentin aber von vorne bis hinten ausgebeutet, unterbezahlt und mit Vorlesungen bedacht, in die sie sich erst einmal mit großem Aufwand einarbeiten muss. Wundert es da, dass Jeanne immer griesgrämiger wird? In mehreren (teils etwas plötzlichen und unüberschaubaren) Zeitsprüngen erlebt der Leser/Betrachter, wie Jeanne zunehmend nervöser und gereizter wird, sich auch äußerlich zu ihrem Nachteil verändert und sich ihre Dissertation wie eine dunkle Wolke über allen Bereichen ihres Lebens ausbreitet, bis sie schließlich ihre Schatten über Jeannes Beziehung zu dem lange Zeit gelassenen Loic wirft. 

Witzig ist das alles durchaus. Allerdings mehr aus dem
Wiedererkennungseffekt heraus. Echten, augenzwinkernden Humor sucht man in dem Comic nämlich vergeblich. Tiphaine Rivière macht ihrem Ärger über den Wissenschaftsmarathon rigoros Luft. Und so verliert die Geschichte parallel zu Jeannes terrierhafter Verbissenheit in ihr Vorhaben mit jeder Seite an Leichtigkeit.
Allerdings wirkt der gelungene Zeichenstil der Schwere häufig entgegen. In thematisch stimmigen, gedeckten Tönen aus grau, grün, braun und blau setzt Tiphaine Rivière ihren Figuren unzählige treffende Gesichter auf; fröhliche, verzweifelte, missgünstige, gelangweilte, verärgerte und viele mehr, sodass man in der Betrachtung dieser hervorragend umgesetzten Beobachtungsgabe schwelgen und schmunzeln kann.

Hoffnung macht dieser Comic dennoch nicht. Wer mit dem Studieren fertig ist, kann ihn am Ende allenfalls zuklappen und denken: ‚Gott sei Dank, habe ich das hinter mir.’ Wer noch mittendrin steckt, im Universitätshamsterrad, dürfte hingegen ein paarmal heftig schlucken müssen. Trotzdem empfehle ich diese liebevoll gestaltete, aber bittere Graphic Novel allen, die von einer wissenschaftlichen Arbeit in den Wahnsinn getrieben werden oder wurden. (Oder aber den lieben Freunden und Verwandten, die mit diesem Comic als Geschenk zu Weihnachten ihre Anteilnahme besser zeigen können als mit nadelstichartigen Nachfragen nach dem Abgabetermin;-))